Lataben Arvindbhai Makwana ist Näherin. Die 40-Jährige arbeitet zu Hause, wie viele andere Frauen in dieser Branche in Indien. Doch zuletzt konnte sie es nicht mehr aushalten, ihre Nähmaschine in ihrem blechgedeckten Haus laufen zu lassen, das wenig Belüftung und nur einen kleinen Deckenventilator hat. Die Temperaturen in der Stadt Ahmedabad im Westen Indiens, wo sie wohnt, waren auf über 43 Grad Celsius gestiegen.

Als Tagelöhnerin hieß das für sie, kein Geld mehr zu verdienen. Geld, das sie braucht, um sich und ihre Kinder zu ernähren und Blutdruckmedikamente für sich selbst zu kaufen. "Es wird jeden Sommer schlimmer", sagte Makwana. Die extreme Hitze, die in den letzten Jahren durch den Klimawandel spürbar verstärkt wurde, ist besonders gefährlich für Menschen wie sie, die an Bluthochdruck leiden.

 

Doch für die Näherin gab es eine Lösung. Sie erhielt zumindest für ein paar Stunden pro Tag einen Lohnersatz von einer Versicherungsgesellschaft. Die Prämien für das Programm, das von der Gewerkschaft Self-Employed Women's Association (SEWA) aufgelegt wurde, werden zum Teil von den Frauen bezahlt, die daran teilnehmen, den Rest steuert eine Wohltätigkeitsorganisation bei. Etwa 50.000 Inderinnen haben die Versicherung abgeschlossen, wie das indische Wirtschaftsblatt Business Standard jetzt berichtete.

Millionen Menschen mit Tagelöhner-Jobs stehen angesichts der heftigen Hitzewelle, die Indien und den Nachbarstaat Pakistan seit Wochen im Griff hat, vor einer schwierigen Wahl: unter gefährlichen Bedingungen zu arbeiten oder zu wenig Geld für Essen zu haben. Maßnahmen wie die Versicherungslösung, von der die Näherin Makwana profitiert, dürften immer wichtiger werden, da die Klimaforschung eine weitere Verstärkung der Temperaturbelastung auf dem Subkontinent voraussagt.

Tatsächlich ist Indiens Hitzewelle die längste, die das Land bisher getroffen hat. Der oberste Wetterexperte der Regierung in Neu-Delhi, Mrutyunjay Mohapatra, verwies am Montag in einem Interview darauf, dass über rund 24 Tage in verschiedenen Teilen des Landes extreme Hitze herrschte. Betroffen war vor allem der Norden mit Temperaturen zwischen 45 und 50 Grad.

"Hitzewellen werden häufiger, länger und stärker"

Die Hitzewelle soll nach den Prognosen noch einige Tage anhalten, bis der jährliche Monsunregen, der Südindien bereits erreicht hat, sich weiter nach Norden verlagert. Das dürfte die dringend erhoffte Abkühlung bringen. Mohapatra warnt allerdings vor einer weiteren Verschärfung in den nächsten Jahren. "Hitzewellen werden häufiger, dauerhafter und intensiver sein, wenn keine Präventivmaßnahmen ergriffen werden", sagte der Meteorologe.

In der Hauptstadt Neu-Delhi und den umliegenden Regionen stiegen die Temperaturen in der aktuellen Hitzewelle auf bis zu 50 Grad, was in dem Ballungsraum mit rund 33 Millionen Menschen enorme Belastungen bedeutet. Die Meldung, an einer Messstation seien sogar knapp 53 Grad erreicht worden, stellte sich aber als falsch heraus. Ein defekter Sensor habe einen Messfehler verursacht, teilte die Wetterbehörde mit. Die anderen Stationen meldeten an diesem Tag bis zu 49 Grad.

Die gesundheitlichen Folgen sind gravierend. Allein im Mai wurden für Gesamt-Indien nach offiziellen Angaben fast 20.000 Verdachtsfälle von Hitzschlag gemeldet. Berichtet wurde über 200 Todesfälle, doch die tatsächliche Zahl dürfte weit höher liegen, weil hitzebedingte Opfer in ländlichen Gebieten nicht gemeldet werden.

Verschärft wurde die Lage teilweise durch Wassermangel. Die indische Wasserbehörde meldete, in Dutzenden Stauseen sei der Wasserstand auf einen Bruchteil der üblichen Werte gefallen.

Um die Folgen abzumildern, trat in der vorigen Woche das nationale Krisenmanagement-Komitee zusammen. Es forderte die Bundesstaaten auf, wo noch nicht geschehen, Hitzeschutz-Aktionspläne umzusetzen. Diese sehen unter anderem die Einrichtung von klimatisierten öffentlichen Räumen vor, in denen Menschen Zuflucht suchen können.

Die Behörden in Indien wie auch im Nachbarland Pakistan haben bereits Schulen vorübergehend geschlossen, weil praktisch kein Unterricht mehr möglich war. Teilweise verteilten sie auch kaltes Wasser und Fruchtsäfte an Passanten, um ihnen etwas Entlastung zu verschaffen.

"Deutschland kann von Indien lernen"

Temperaturen bis 40 Grad sind in Indien und Pakistan schon immer üblich. Die heißesten Monate sind April, Mai und Juni, bevor der Monsun dann kühlere Temperaturen bringt. Der Klimawandel intensiviert die Hitzewellen jedoch. So ist Indien nun bereits das dritte Jahr in Folge von Hitzewellen mit noch höheren Temperaturen betroffen.

Eine Studie der internationalen Forschungsgruppe World Weather Attribution (WWA) zu den Hitzespitzen, die bereits im April in Teilen Asiens auftraten, ergab, dass diese durch den Klimawandel mindestens 45-mal wahrscheinlicher geworden waren. In diesem Jahr dürfte zudem das natürliche Klimaphänomen El Niño eine Rolle spielen.

Klimaprojektionen zeigten, dass die Zahl der heißen Tage in der Region zunehmen werde, erläuterte Klimaexpertin Kira Vinke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gegenüber Klimareporter°. "Wie stark diese Steigerung ausfallen wird, hängt maßgeblich davon ab, wie schnell die globalen Emissionen sinken."

Bislang ist hier die nötige Trendwende ausgeblieben. Auch in Indien steigt der Treibhausgas-Ausstoß weiter an, allerdings von einem vergleichsweise sehr niedrigem Pro-Kopf-Niveau. Das Land mit der weltgrößten Bevölkerung peilt Klimaneutralität erst für 2070 an.

Indien-Kennerin Vinke betont, dass gerade Deutschland beim Umgang mit der Hitze durchaus von Indien lernen könne. Sie verweist darauf, dass es in den letzten Jahren auch hierzulande mehr Hitzeereignisse gab. Viele Deutsche hätten die entsprechenden Verhaltensnormen, was man dann tun oder unterlassen sollte, anders als die Menschen in Südasien noch nicht verinnerlicht.

"Das reicht von einfachen Verhaltensänderungen, wie etwa Schatten suchen, mehr trinken, körperliche Anstrengungen in der Mittagshitze vermeiden, bis hin zu strukturellen Fragen, wie dem Schutz besonders gefährdeter Personen durch bessere Kühlsysteme etwa in Seniorenheimen oder Krankenhäusern", sagt die Expertin, die auch Co-Vorsitzende des Beirats der Bundesregierung für zivile Krisenprävention und Friedensförderung ist.

Tatsächlich hat es in den vergangenen Jahren auch hierzulande immer neue Hitzerekorde gegeben. Die bisher höchste Temperatur lag laut dem Deutschen Wetterdienst (DWD) bei 41,2 Grad, gemessen am 25. Juli 2019 in zwei Orten am Niederrhein. Das liegt zwar noch fast zehn Grad unter den Spitzenwerten in Indien, ist aber auch schon ziemlich heftig. Der DWD warnt: Auch Deutschland muss sich auf mehr extreme Temperaturen einstellen.