
Die europäischen Autobauer scheinen sich im Strategiegespräch mit der Europäischen Kommission durchgesetzt zu haben. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Herstellern am Montag eine "Atempause" in Aussicht gestellt.
Um das eigentlich für dieses Jahr geplante neue Emissionsziel zu erreichen, soll die Branche bis 2027 Zeit bekommen. Der Vorschlag muss vor Inkrafttreten allerdings noch vom EU-Parlament und von den Mitgliedsstaaten bestätigt werden.
Es ist das Ergebnis von Ende Januar in Brüssel begonnen Strategiegesprächen zwischen Branchenvertretern, etwa von BMW, VW und Renault, sowie der Kommission, Gewerkschaften und Umweltverbänden.
Der europäische NGO-Dachverband Transport and Environment (T&E) kritisierte die geplante Lockerung umgehend und sprach von einem "beispiellosen Geschenk für Europas Autoindustrie".
"Jetzt einzuknicken sichert der europäischen Automobilindustrie kurzfristig Gewinne, lässt aber langfristig den Rückstand auf China noch größer werden", ergänzte T&E‑Direktor William Todts. Die Abschwächung würde Hersteller belohnen, die die Ziele verfehlt haben, betont Todts, der an den Strategiegesprächen teilgenommen hatte.
Hintergrund ist, dass die Hersteller wegen der verfehlten Flottengrenzwerte hohe Strafzahlungen befürchten mussten. Der europäische Automobilherstellerverband Acea hatte vor Strafen in Höhe von 16 Milliarden Euro gewarnt.
Der laute Ruf nach Entlastungen sei vor allem heiße Luft, entgegnet der Mobilitätsexperte des zivilgesellschaftlichen Bündnisses Klima-Allianz Deutschland, Jonas Becker. Nach aktuellen Schätzungen von unabhängigen Instituten würden die Strafzahlungen gering ausfallen.
Eine Lockerung der Flottengrenzwerte sei absurd, so Becker. "Erstens halten viele Hersteller die Werte ein und zweitens werden damit auch andere Pkw-Ziele wie das Verbrenner-Aus infrage gestellt."
"Die Autoindustrie sabotiert ihre eigenen Zukunftsperspektiven"
Die Flottengrenzwerte legen fest, wie viel CO2 alle neu zugelassenen Autos in der EU durchschnittlich ausstoßen dürfen. Bis 2024 lag dieser Wert bei 115 Gramm CO2 pro Kilometer und Fahrzeug. Dieses Jahr hätte er auf knapp 94 Gramm sinken sollen.
Davon ist die Branche gegenwärtig jedoch weit entfernt. Erreicht wurden letztes Jahr 107 Gramm und damit unwesentlich weniger als 2022.
Neben den Strafzahlungen hätte akut der Verlust von 440.000 Arbeitsplätzen gedroht, mahnte Guido Guidesi, Vorsitzender der Allianz der Automobilregionen in Europa. Der gegenwärtige politische Weg sei "wirtschaftlicher Suizid".

Zu einer ganz anderen Einschätzung ist eine von T&E in Auftrag gegebene Analyse zweier Automotive-Institute gekommen. Bei einer Aufweichung der EU-Flottengrenzwerte würden in Ostdeutschland massive Jobverluste drohen, heißt es darin.
Wenn die Emissionsziele bestehen bleiben, könnten in der Region hingegen knapp 10.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Ostdeutschland hätte dann die Chance, Schlüsselregion für die Automobilindustrie der Zukunft zu werden, sagte Sebastian Bock von T&E Deutschland.
Sachsen ist bereits heute ein Zentrum für die europäische Halbleiterindustrie. Dabei werden überwiegend Chips für die Autobranche hergestellt. Auch bei der Batterieproduktion kann Ostdeutschland laut der Analyse in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen. Die notwendige Expertise in der Chemie- und Metallindustrie sei vorhanden.
Noch bevor die Kommission bekanntgegeben hatte, den Forderungen der Branche nachkommen zu wollen, hatte Bock gewarnt: "Die EU darf nicht vor den Drohgebärden der Autoindustrie einknicken. Und die Autoindustrie muss endlich damit aufhören, ihre eigenen Zukunftsperspektiven zu sabotieren, indem sie versucht, die Emissionsziele für kurzfristige Profite zu verwässern."
Der Aufschub bei den Flottengrenzwerten würde dazu führen, dass weniger E‑Autos verkauft werden und mehr CO2 ausgestoßen wird, so Becker von der Klima-Allianz. Auch das hat T&E durchgerechnet. Demnach würde durch eine Lockerung der Emissionsziele zwischen 2025 und 2027 rund 1,8 Millionen E‑Autos weniger verkauft werden.
Offener Brief von 700 Ärzt:innen
In einem offenen Brief hatten sich kürzlich auch mehr als 700 Ärzt:innen an die EU-Kommissionspräsidentin gewandt. "Abgase aus Verbrennungsmotoren verschmutzen die Luft, die wir atmen, und beschleunigen die Klimakrise", schreiben die Mediziner:innen.
Unterzeichnet wurde der Brief unter anderem vom Präsidenten der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, und der Epidemiologin und Professorin für Klimawandel und Gesundheit an der Berliner Charité, Sabine Gabrysch. Auch die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin und zahlreiche weitere Institutionen und Ärzt:innen haben unterschrieben.
Die Luftschadstoffe durch den Autoverkehr seien besonders in Städten ein großes Problem, mahnen die Unterzeichnenden. Feinstaub und Stickoxide erhöhten das Risiko von Allergien, Asthma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Schlaganfällen.
Die Europäische Umweltagentur führt EU-weit rund 300.000 Todesfälle pro Jahr auf die zu hohe Luftverschmutzung, vor allem in Städten, zurück.
Die gesundheitlichen Folgen des Autoverkehrs gehen dabei weit über Luftverschmutzung hinaus. Laut Umweltbundesamt ist mehr als ein Viertel der deutschen Bevölkerung tagsüber gesundheitsschädlichem Straßenlärm ausgesetzt.
Zudem sind allein 2022 über 20.000 Menschen im europäischen Straßenverkehr getötet worden.
Die Unfallopfer und auch viel vom Straßenlärm gehen allerdings nicht auf das Konto von Benzin und Diesel, sondern auf den Individualverkehr generell. Auch ein beträchtlicher Anteil des Feinstaubs entsteht durch den Abrieb der Autoreifen auf der Straße und würde damit nicht durch eine Antriebswende verschwinden.
Nicht nur Umweltverbände, auch zahlreiche Verkehrsforscher:innen fordern deshalb eine umfassende Mobilitätswende anstatt einer bloßen Elektrifizierung des Verkehrs.
Auch für den Klimaschutz lohnt es sich, den Autoverkehr als Ganzes in den Blick zu nehmen. So schreibt das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung: "Der Individualverkehr auf der Straße ist ein großer Klimakiller, und der Umstieg auf Elektro löst nur einen Teil des Problems, weil ja auch die Fahrzeugherstellung Emissionen verursacht."