Der Artenschwund auf der Erde ist seit Langem als Problem bekannt. Die Weltgemeinschaft hat zwar beschlossen, bis 2030 rund 30 Prozent der Land- und Meeresflächen unter Schutz zu stellen.
Doch wie dramatisch die Situation inzwischen ist, macht nun ein neuer Report der Artenschutzstiftung WWF deutlich. Danach sind die Bestände von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Amphibien und Reptilien weltweit drastisch zurückgegangen.
Allein in den letzten 50 Jahren habe der Mensch die untersuchten Wildtier-Populationen im Schnitt um 73 Prozent dezimiert. Das geht aus dem diesjährigen "Living Planet Report" hervor, den der WWF gemeinsam mit der Zoological Society of London erarbeitet hat.
Für den Bericht wurden fast 35.000 globale Populationen von nahezu 5.500 Wirbeltierarten auf der ganzen Welt ausgewertet. Den stärksten Rückgang verzeichnen danach die Süßwasserökosysteme mit 85 Prozent, gefolgt von Land- und Meeresökosystemen mit 69 und 56 Prozent.
"Frühwarnsystem" für drohende ökologische Kipppunkte
Geografisch am stärksten betroffen sind Lateinamerika und die Karibik (95 Prozent), Afrika (76) und die Asien-Pazifik-Region (60 Prozent). Europa ist aktuell weniger betroffen, das Minus beträgt hier "nur" 35 Prozent – allerdings laut WWF unter anderem, weil ein großer Teil der Biodiversität schon vor Jahrzehnten verloren gegangen ist.
Die prozentuale Veränderung spiegelt dabei die proportionale Veränderung der Größe der Bestände über einen längeren Zeitraum wider – nicht die Anzahl der verlorenen Einzeltiere oder die Anzahl ausgestorbener Arten.

Ein Beispiel für den dramatischen Rückgang in den Meeren ist der Atlantische Kabeljau im Nordatlantik und der westlichen Ostsee. Sein Bestand brach zwischen 2000 und 2023 um 77 Prozent ein.
Hauptgrund sei hier die Überfischung, so die Fachleute. Und da die Fischerei oft mit Grundschleppnetzen arbeite, würden insgesamt die Ökosysteme des Meeresbodens geschädigt.
Zwei weitere Beispiele aus dem Report: die Amazonasdelfine und die kleineren Tucuxi-Delfine im brasilianischen Mamirauá-Schutzgebiet. Deren Bestände seien von 1996 bis 2016 um 65 Prozent beziehungsweise 75 Prozent zurückgegangen. Im Jahr 2023 habe extreme Hitze und Dürre mehr als 330 Flussdelfinen in nur zwei Seen den Garaus gemacht.
Der Living Planet Index, der seit 1998 alle zwei Jahre vorgelegt wird, soll laut WWF auch ein "Frühwarnsystem" für drohende ökologische Kipppunkte sein. Laut dem Bericht ist die Krise der Biodiversität bereits so groß, dass sie überschritten werden könnten, was eine Wiederherstellung stabiler Systeme unmöglich machen würde.
"Die Doppelkrise aus Biodiversitätsverlust und Klimakrise bringt nicht nur einzelne Arten an ihre Grenzen, sondern gefährdet die Stabilität ganzer Ökosysteme", warnt die Stiftung. Die Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes und die weltweite Massenbleiche von Korallenriffen seien nur zwei Beispiele dafür.
Der Mensch dominiert
Das gesamte tierische, pflanzliche und sonstige Leben auf der Erde wiegt gigantische 550 Milliarden Tonnen. Gemessen am Gewicht sind über 80 Prozent aller Lebewesen Pflanzen, gefolgt von Bakterien mit zwölf Prozent und Pilzen mit zwei Prozent. Tiere und Menschen machen etwa 0,5 Prozent aus.
Diese Bilanz haben vor ein paar Jahren erstmals israelische Forscher ermittelt, wobei für das Gewicht jedoch nur der Kohlenstoff-Anteil berücksichtigt wurde, damit variable Bestandteile wie der Wassergehalt der Organismen das Ergebnis nicht verzerren.
Die Menschen machen von der Gesamtmenge nur einen Bruchteil aus, nämlich nur 0,06 Milliarden Tonnen, also gut ein Zehntausendstel. Trotzdem dominieren sie praktisch den ganzen Planeten, und zusammen mit dem Gewicht ihrer Nutztiere von 0,1 Milliarden Tonnen – von Rind über Schwein bis Geflügel – übertreffen sie das Gesamtgewicht aller anderen, frei lebenden Säugetiere um das 20-Fache.
Der Einfluss des Menschen ist auch erdhistorisch bemerkenswert. Wie das Forschungsteam um Yinon Bar-On vom Weizmann Institute of Science in Rechovot bei Tel Aviv kalkulierte, hat er seit der letzten Eiszeit vor rund 10.000 Jahren etwa die Hälfte der pflanzlichen Biomasse und 85 Prozent der wilden Säugetiere ausgelöscht.
"Mit jeder Ausgabe des Living Planet Report müssen wir weiteren Schwund der Natur verkünden", sagte WWF-Vorständin Kathrin Samson. Die Menschheit laufe dadurch Gefahr, die eigene Handlungsmacht zu verlieren. "Wir zerstören, was uns am Leben hält."
Lebensmittelversorgung, Zugang zu sauberem Wasser, Stabilität der Wirtschaft und erträgliche Temperaturen seien abhängig von intakten Ökosystemen und gesunden Wildtierbeständen. "Was wir für ein gutes und sicheres Leben benötigen, steht durch unsere Lebensweise auf dem Spiel."
Wandel im Ernährungs-, Energie- und Finanzsystem nötig
Immerhin zeigt der Report auch positive Beispiele, in denen Tierpopulationen wieder aufgebaut werden konnten. Der europäische Wisent ist eines davon. Die Rinderart war 1927 in freier Wildbahn ausgestorben, heute gibt es wieder rund 6.800 davon, zumeist in Schutzgebieten.
Weiteres Beispiel: Die Berggorillas im Virunga-Bergmassiv in der Demokratischen Republik Kongo erholen sich, der Bestand ist auf rund 700 Tiere angewachsen. Auch die Bestände des Eurasischen Bibers, der ebenfalls als nahezu ausgerottet galt, erholen sich, seit in seinen Lebensräumen Naturschutzgebiete eingerichtet wurden und er nicht mehr gejagt wird.
Der WWF betont, dass Weichenstellungen in den kommenden Jahren bis 2030 "entscheidend für die Zukunft des Lebens auf unserer Erde" seien. Der Schutz der Natur müsse dabei Hand in Hand gehen mit der Transformation der Nahrungsmittelerzeugung, des globalen Energiesystems und des Finanzsystems.
"Noch können wir das Ruder herumreißen und den Verlust der biologischen Vielfalt aufhalten. Dafür muss aber die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft schneller gehen", forderte Samson. Sie verwies auf drei bevorstehende internationale Konferenzen, die hier Fortschritte bringen könnten: die Weltnaturkonferenz in Kolumbien, den Klimagipfel in Aserbaidschan und die Verhandlungen zum UN-Plastikabkommen in Südkorea.
Hier brauche es aber den politischen Willen, Artensterben und Klimakrise aufzuhalten. Auch Deutschland trage dabei eine große Verantwortung.