Wer über Klima und Energie schreibt, hat ein Problem mit Tonnen, Emissionen und Effizienzen. Möglichst anschauliche Vergleiche müssen her. Sehr beliebt sind zum Beispiel Autofahrvergleiche: Wer von Durchschnitts- auf vegetarische Kost umstellt und so 300 bis 400 Kilo CO2 jährlich spart, könnte damit 2.000 bis 2.500 Kilometer Pkw fahren – oder auch nicht.
Wie veranschaulicht man aber, wenn eine Regierung ihr Klimaziel für 2030 um zehn Prozentpunkte erhöht: von einer 55-prozentigen CO2-Einsparung auf eine 65-prozentige? Fassbarer als diese Irgendwas-Prozente wäre da vielleicht eine Angabe, wie viele Tonnen CO2 deswegen zusätzlich eingespart werden müssen.
Also, sehen wir mal: Das Klima-Basisjahr ist 1990. Da pustete Gesamtdeutschland laut Umweltbundesamt 1.249 Millionen Tonnen CO2 in die Luft. Wenn die Menge um 65 Prozent sinken soll, dürfen es 2030 nur noch etwas mehr als 437 Millionen Tonnen CO2 sein.
Zur Kontrolle sind einfach die Zielmengen der sechs einzelnen Sektoren – Energie, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft, Abfall – für 2030 zu addieren, wie sie im neuen Gesetzentwurf auf Seite 7 aufgelistet sind – Ergebnis: 438 Millionen Tonnen. Das passt also.
Jetzt noch die Zahl für die 55-prozentige CO2-Minderung. Ausgehend wieder von 1.249 Millionen Tonnen hätte Deutschland dann 2030 noch 562 Millionen Tonnen emittieren dürfen.
Auch hier zur Kontrolle schnell mal die sechs Sektoren-Zielmengen aus dem im Dezember 2019 in Kraft getretenen und ja noch geltenden Klimagesetz addiert (dort auf Seite 9 zu finden): 543 Millionen Tonnen.
Nanu. Einmal sind 55 Prozent Minderung 562 Millionen und einmal 543 Millionen Tonnen. Eine Differenz von fast 20 Millionen Tonnen CO2. Wo ist der Fehler?
Es gibt keinen Fehler, beide Angaben – sowohl die 562 Millionen als auch die 543 Millionen – sind für sich genommen richtig, antwortet das Bundesumweltministerium. Des Zahlenrätsels Lösung liegt darin, dass Deutschland mit dem ersten Klimagesetz sich für 2030 Ziele für die einzelnen Sektoren vorgab, die zusammen nicht eine CO2-Reduktion um 55, sondern um etwa 56,5 Prozent ergeben, lässt das Ministerium wissen.
Verboten ist das nicht. Im Klimagesetz steht: "Bis zum Zieljahr 2030 gilt eine Minderungsquote von mindestens 55 Prozent." Die 1,5 Prozentpunkte mehr sind also erlaubt, klimapolitisch sowieso.
Aber wer entschied 2019 darüber, dass Deutschland in einem Gesetz für 2030 eine höhere CO2-Einsparung festlegt, als dann anderthalb Jahre lang landauf, landab als unverrückbarer Maßstab verkündet wurde?
Bloß nicht mehr als nötig tun!
Am Ende landet der Journalist bei den üblichen gut informierten Regierungskreisen. Danach hat in der bekanntlich sehr langen Nachtsitzung des Koalitionsausschusses – bevor die Klimabeschlüsse in der ebenso legendären Pressekonferenz am 20. September 2019 verkündet wurden – die, in dem Fall, Klima-Kanzlerin persönlich irgendwann die Entscheidung getroffen, bei den damals diskutierten Spannen der einzelnen Sektorziele den jeweils ambitionierteren Wert zu nehmen. So seien dann unterm Strich tatsächlich die 56,5 Prozent herausgekommen.
Professionelle Merkelianer dürften hier wohl eine Prägung der Kanzlerin aus Zeiten vor 1990 herauslesen. Die damaligen Staats- und Kombinatslenker der DDR bauten in ihren Plänen stets eine stille Reserve ein, damit sie den sich unweigerlich einstellenden Forderungen nach Plan-Übererfüllung ohne große Probleme nachkommen konnten.
Jedenfalls hat auch die schwarz-rote Koalition jetzt diese stille Reserve von fast 20 Millionen Tonnen CO2-Einsparung aktiviert. Denn tatsächlich steigerte sie das Klimaziel für 2030 nicht um zehn, sondern nur um 8,5 Prozentpunkte. In absoluten Zahlen ausgedrückt: Statt 124 Millionen Tonnen müssen jetzt nur 105 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich eingespart werden.
Exegeten der Statistik werden dabei vermutlich herausfinden, dass die Auflösung dieser stillen Reserve vor allem dazu diente, das Jammern der Auto- und der Agrarbranche über die verschärften Klimaziele zu besänftigen und die Vorgaben für sie herunterzuschrauben.
Eine klimapolitisch wirklich anspruchsvolle Regierung hätte auch anders handeln können. Sie hätte sagen können: Okay, wir haben uns sowieso schon 56,5 Prozent vorgenommen, jetzt packen wir zehn weitere Prozentpunkte drauf und geben uns da und dort noch Mühe – dann wäre auch ein Klimaziel von minus 67 Prozent für 2030 drin gewesen.
Das hätte zumindest näher an den 69 Prozent Einsparung gelegen, die Deutschland laut den Wissenschaftlern vom Climate Action Tracker auf den richtigen Pfad bringen würden, um den nötigen Beitrag für die Begrenzung der Erderwärmung bei 1,5 Grad zu leisten.
Aber nein. Diese Koalition sprang nicht nur so hoch, wie sie musste und keinen Zentimeter mehr. Sie sprang nicht einmal so hoch, wie sie hätte können.
PS: Wer anschaulich gemacht haben möchte, wie viel 105 Millionen Tonnen CO2 sind: Im Vor-Pandemie-Jahr 2019 stießen die deutschen Braunkohlekraftwerke um die 125 Millionen Tonnen CO2 aus. Inzwischen sind weitere Blöcke vom Netz, dennoch zeigt das, was allein bei einem Braunkohleausstieg bis 2030 möglich wäre.