Klimareporter°: Herr Müller, Sie begleiten die deutsche Klimapolitik sei den 1980er Jahren, lange auch als Bundestagsabgeordneter. Wie sieht Ihre Bilanz aus – kurz bevor das Klimakabinett der Bundesregierung am Freitag Beschlüsse fassen soll, um bei der CO2-Reduktion endlich in die Spur zu kommen?
Michael Müller: Beim Klimaschutz wurden 30 Jahre verloren. Die verpassten Chancen sind ein Trauerspiel. Bereits Ende 1989 hat die damalige Klima-Enquetekommission dem Deutschen Bundestag das erste umfassende und durchgerechnete Treibhausgas-Szenario vorgelegt, das dann auch beschlossen wurde.
Es ging damals schon von einem Limit der Erderwärmung bei 1,5 Grad Celsius aus. In den ersten 15 Jahren bis 2005 sollte es eine CO2-Minderung um ein Drittel in den alten Bundesländern geben sowie eine noch höhere Reduktion in den neuen Ländern, in den darauffolgenden 15 Jahren dann eine Minderung um ein weiteres Drittel.
Die Bundesregierung hat damals immerhin eine Reduktion um 25 Prozent bis 2005 beschlossen. Erreicht wurden dann knapp 18 Prozent.
Die CO2-Reduktion wurde vor allem in den neuen Bundesländern erreicht und sogar übertroffen, hauptsächlich, weil die ineffiziente DDR-Industrie abgebaut wurde. In der alten Bundesrepublik geschah wenig, aber die Erfolge in Ostdeutschland wurden als Erfolg eingesackt.
Wäre die Bundesregierung dem Enquete-Vorschlag wirklich gefolgt, läge der CO2-Ausstoß in unserem Land heute um zwei Drittel niedriger. Der Schwerpunkt lag auf umfassenden Maßnahmen in den Bereichen Strom, Wärme, Verkehr, Landwirtschaft und Ökosysteme.
Auch finanziell wären die positiven Auswirkungen des Umbaus längst sichtbar – durch eine öko-effiziente Produktion und stark gesunkene Kosten für die Einfuhren von Kohle, Erdöl und Erdgas.
Warum hat die Bundesregierung die Blaupause der Kommission nicht genutzt?
In den 1990er Jahren wurde der gravierende Fehler gemacht, der sich heute nicht nur klimapolitisch so negativ auswirkt: Der Aufbau Ost wurde nicht mit einem Umbau West verbunden.
Michael Müller
ist Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands. Der umweltpolitische SPD-Vordenker war Bundestagsabgeordneter und von 2005 bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium. Er ist Kuratoriumsmitglied von Klimareporter°.
Hätte es Veränderungen auf beiden Seiten gegeben, hätte das eine gemeinsame Identität für ganz Deutschland geschaffen, es wäre ein zentrales Projekt für Ost und West gewesen. Aber man hatte ja "gewonnen" – also warum etwas ändern?
Zumal Deutschland in der zweiten Hälfte des damaligen Jahrzehnts dann zum "kranken Mann" Europas wurde und Investitionen in einen ökologischen Umbau noch schwieriger geworden wären.
Zudem formierte sich der Widerstand gegen den Klimaschutz. Der damalige Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) hat die Umbau-Idee West wenigstens öffentlich, aber folgenlos thematisiert. Von der ostdeutschen Ministerin Angela Merkel (CDU) war dazu nichts zu hören, und als sie 1994 Töpfer als Umweltministerin nachfolgte, war es mit dieser Idee endgültig vorbei. Die Folge: Viele Menschen im Osten fühlen sich heute "abgehängt".
Angela Merkel ist entscheidend mitverantwortlich für ein doppeltes Versagen – in der Klimapolitik und bei der inneren Einheit unseres Landes.
Nun muss dringend umgesteuert werden, weil Deutschland sein CO2-Ziel für 2020 krachend verfehlt – unter anderem geht es jetzt um eine CO2-Bepreisung. Wird das funktionieren?
Wir brauchen ein Gesamtpaket, das nicht nur eine Zusammenreihung einzelner Maßnahmen ist. Es geht um eine sozial-ökologische Transformation, die Wirtschaft und Gesellschaft umfasst. Eine Steuer oder ein Emissionshandels-Preis müsste, soll dem Klimaschutz wirklich geholfen werden, bei 180 bis 200 Euro pro Tonne liegen – also viel höher, als jetzt diskutiert wird.
Abgesehen davon, dass wir wegkommen müssen von den neoliberalen End-of-pipe-Strategien, führt das zu Unsicherheiten und auch zu Angst, wie die Wahlen in Sachsen und Brandenburg gezeigt haben. In dieser Form ist das Wasser auf den Mühlen der AfD. Die Gefahr eines gespaltenen Landes wird größer.
Was wäre die Alternative?
Es ist notwendig, den Klimaschutz vor allem als ein gesamtdeutsches Umbauprojekt zu organisieren. Die Externalisierungsgesellschaft, in der alles auf die Zukunft abgewälzt wird, muss beendet werden.
Ein zentraler Punkt ist, dass eine Finanzierung gefunden wird, die keine neuen sozialen Schieflagen erzeugt. Stattdessen sind zum Beispiel der Abbau umweltschädlicher Investitionen, mehr Steuergerechtigkeit und auch ein Ende der "Schwarzen Null" in der Haushaltspolitik notwendig.
Außerdem schlage ich vor, das Geld, das für die Erhöhung der Rüstungsausgaben geplant ist, in den Klimaschutz umzuleiten.
Covering Climate Now
Klimareporter° beteiligt sich wie rund 250 andere Zeitungen und (Online-) Magazine weltweit an der Initiative "Covering Climate Now". Die teilnehmenden Medien verpflichten sich, vor allem in der Woche vor dem New Yorker UN-Klimagipfel am 23. September über die Klimakrise zu berichten. Wir freuen uns über die Bewegung in der Medienlandschaft. Klimaschutz braucht guten und kritischen Journalismus.
Glauben Sie, es gibt dafür eine Mehrheit?
Klimaschutz und Abrüstung gehören aus meiner Sicht zusammen. Wir brauchen den Einstieg in eine neue Friedenspolitik. Um für den Klimaschutz eine neue Gemeinsamkeit zu schaffen, wäre das Motto "Klimaschutz statt neuer Aufrüstung" genau richtig.
Seit 2014 sind die Militärausgaben in Deutschland um 34 Prozent gestiegen, Deutschland steht auf Platz acht weltweit. Sollte der Unsinn mit den zwei Prozent Rüstungsausgaben – gemessen am BIP – kommen, würde unser Land auf Platz vier aufsteigen. Wollen wir das wirklich?
Es muss vielmehr um Abrüsten statt Aufrüsten gehen. Anstatt die Militärausgaben im Bundeshaushalt für 2020, wie es vorgesehen ist, um weitere rund zwei Milliarden Euro zu erhöhen, könnte mit dem Geld ein ökologisches Förderprogramm aufgelegt werden, das mindestens 15 Milliarden Euro an Investitionen für den Klimaschutz anstößt. Das wäre ein Beitrag für den Frieden nach innen und nach außen.