In Deutschland wird heftig über eine Laufzeitverlängerung für die drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke debattiert, um eine mögliche Energieknappheit im Winter abzufedern. In der Ampel-Regierung ist die FDP klar dafür, doch auch bei SPD und Grünen läuft die Debatte über einen sogenannten "Streckbetrieb".
Wie sinnvoll ist es, die AKW weiter am Netz zu lassen?
Um welche AKW geht es?
Hierzulande arbeiten noch drei von ehemals 19 Leistungsreaktoren, einer im Norden, nämlich Emsland (Niedersachsen) und zwei im Süden, Neckarwestheim 2 (Baden-Württemberg) und Isar 2 (Bayern). Das nach Fukushima 2011 neu gefasste Atomgesetz schreibt vor, dass sie spätestens am 31. Dezember 2022 abgeschaltet werden.
Der Anteil der drei AKW an der Nettostromerzeugung in Deutschland beträgt rund sechs Prozent. Sie decken damit rechnerisch den Stromverbrauch von rund zehn Millionen Haushalten.
Zum Vergleich: Mit Erdgas wurden bisher etwa zehn Prozent der Elektrizität erzeugt.
Was bedeutet "Streckbetrieb"?
Es geht um eine Verlängerung des Betriebs, ohne neue Brennelemente einsetzen zu müssen, deren Beschaffung ein Jahr oder länger dauern würde.
Die Bundesministerien für Wirtschaft und für Umwelt kamen im Frühjahr bei einer Prüfung zu dem Ergebnis, die drei AKW könnten mit den vorhandenen Brennstäben nur dann weiterlaufen, wenn ihre Stromerzeugung vorher gedrosselt würde.
Die Stromkapazität wäre dann zwar ab Januar höher, vorher würde aber weniger Atomstrom geliefert. Das Minus müsste zum Beispiel mit mehr CO2-intensivem Kohlestrom ausgeglichen werden. Ein Streckbetrieb ist laut der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) ab Ende 2022 für mindestens 80 Tage realisierbar.
Kann man mehr herausholen?
Laut dem Tüv Süd ist es möglich, den Atombrennstoff besser auszunutzen, sodass man über das geplante Ablaufdatum hinaus weiter Strom produzieren kann. Dafür sollen die Brennstäbe im Reaktorkern neu angeordnet und effizienter genutzt werden.
Der Tüv hat eine Berechnung dazu für das AKW Isar 2 bei München durchgeführt. Er schätzt, dass es bis zum Sommer 2023 weiterlaufen und dabei Strom für 1,5 Millionen Haushalte produzieren könnte.
Er hält es sogar für möglich, den Ende 2021 abgeschalteten Reaktor Gundremmingen C innerhalb von etwa sechs Monaten wieder hochzufahren. Mit den noch vorhandenen Brennelementen könne man einen Reaktorkern zusammenstellen.
Was bringt eine Verlängerung?
Atomkraftwerke können Gaskraftwerke nicht eins zu eins ersetzen. AKW liefern Grundlaststrom, der kontinuierlich in etwa gleicher Menge erzeugt wird, Gas hingegen wird besonders in der Spitzenlast verwendet, das heißt, bei Bedarf schnell ein- und wieder abgeschaltet. Die Reaktoren könnten das nicht leisten.
Zudem werden Gaskraftwerke zum Teil als Heizkraftwerke betrieben werden, AKW hingegen liefern nur Strom. Die begrenzten Gasmengen, die unter diesen Voraussetzungen einzusparen sind, können eingesetzt werden, um die Gasspeicher zu füllen und das Gas dann in der Industrie und den Haushalten zu nutzen.
Das Berliner Analyseinstitut Energy Brainpool allerdings hat jüngst vorgerechnet, dass ein Weiterlaufen der AKW nur ein Prozent des Erdgases ersetzen würde.
Was bedeutet der angekündigte "Stresstest"?
Die Bundesregierung schließt einen Weiterbetrieb der drei AKW offenbar nicht länger ganz aus. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat die Stromnetzbetreiber mit einem weiteren "Stresstest" für die Stromversorgung beauftragt, um auf dieser Grundlage über einen befristeten Weiterbetrieb entscheiden zu können.
Hierbei könnte auch die Sorge eine Rolle spielen, dass bei Gasknappheit oder explodierenden Gaspreisen viele Bürger auf Elektroradiatoren oder Heizlüfter umsteigen. In den letzten Wochen gab es einen Ansturm der Kunden auf diese Geräte in den Baumärkten.
Würden nur zehn Prozent der 20 Millionen deutschen Erdgas-Haushalte zusätzlich mit Strom heizen und dazu zwei Heizlüfter à 2.000 Watt nutzen, würde das die Strom-Höchstlast an einem Winterabend von 85.000 auf 93.000 Megawatt hochschrauben – so viel, wie fünf große AKW leisten.
Wäre die Sicherheit beim Streckbetrieb gewährleistet?
Das ist umstritten. Einige Kerntechnik-Experten halten einen kurzfristigen Weiterbetrieb der AKW für unproblematisch.
Allerdings liegt die letzte große "Periodische Sicherheitsüberprüfung" (PSÜ) der drei AKW, die laut Atomgesetz eigentlich alle zehn Jahre fällig ist, bereits fast 13 Jahre zurück. Dabei wird ergänzend zu laufenden Kontrollen ein AKW quasi auf Herz und Nieren geprüft.
Den AKW-Betreibern wurde erlaubt, auf die letzte (aufwändige und teure) PSÜ zu verzichten, wenn sie den Leistungsbetrieb bis Ende 2022 endgültig einstellen. Bei einem längeren Streckbetrieb oder gar dem Einsatz neuer Brennelemente müssten die PSÜ nachgeholt werden – und das würde sich ökonomisch erst bei einer Verlängerung der Laufzeiten um mehrere Jahre lohnen.
AKW-Gegner und Umweltorganisationen sehen die Verlängerung kritisch: "AKW sind eine tickende Zeitbombe, deren Zünder mit jedem Betriebsjahr lockerer sitzt", heißt es beim Kampagnen-Netzwerk Campact. Mit dem Streckbetrieb drohe die prinzipielle Abkehr vom Atomausstieg.
Was sagen die AKW-Betreiber zu einer Verlängerung?
Zwei der drei Konzerne waren bisher eher skeptisch. Neckarwestheim-Betreiber EnBW verwies darauf, dass der Ausstieg "konsequent umgesetzt" werde, bei RWE (Emsland) heißt es, "die Hürden für einen sinnvollen verlängerten Betrieb" seien "hoch".
Die Eon-Tochter Preussen Elektra (Isar 2) hingegen teilte mit, dass "ein Weiterbetrieb von Isar 2 unter bestimmten Voraussetzungen möglich" wäre.
Die Unternehmen beziehen sich allerdings auch auf die Haltung der Bundesregierung, die sich bereits gegen eine Laufzeitverlängerung entschieden habe. Dies könnte sich nun ändern.
Ob genügend Personal für den Weiterbetrieb vorhanden wäre, ist unklar. RWE zum Beispiel verweist darauf, dass die Personalplanung auf die Stilllegung zum Ende des Jahres ausgerichtet wurde.
Befürworter des Streckbetriebs argumentieren, es sei möglich, genügend qualifiziertes Personal zu gewinnen, da Stammpersonal auch bei anderen AKW, die im Rückbau seien, noch tätig sei.
Ergänzung am 29. Juli: "AKW-Verlängerung nicht genehmigungsfähig"
Lesen Sie dazu unseren Kommentar: Achtung, Spaltung