Die beim Thema AKW-Laufzeitverlängerung bisher unterbelichtete Sicherheitsfrage rückt zunehmend ins Zentrum der Debatte – zumal Politiker von FDP und Union nicht mehr nur einen "Streckbetrieb" mit verminderter Leistung bis zum nächsten Frühjahr anpeilen, sondern Laufzeiten bis 2024 und eventuell darüber hinaus.
Laut einer am Donnerstag vorgestellten Studie wäre ein Weiterbetrieb der drei derzeit noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke ab Januar 2023 nicht genehmigungsfähig. Im Auftrag gegeben wurde die Untersuchung vom Umweltverband BUND.
Kernpunkt der Kritik ist, dass die drei AKW-Blöcke Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 seit 13 Jahren nicht mehr umfänglich sicherheitstechnisch überprüft worden sind. Die letzte "Periodische Sicherheitsprüfung" (PSÜ), die eigentlich mindestens alle zehn Jahre erfolgen soll, habe 2009 stattgefunden, und zwar nach Sicherheitsanforderungen aus den 1980er Jahren.
Ein Verzicht auf die letzte PSÜ war den AKW-Betreibern im Rahmen des Atomausstiegs nur unter der Voraussetzung zugestanden worden, dass die Reaktoren spätestens Ende 2022 abgeschaltet werden.
Studien-Autorin Oda Becker, Physikerin und Expertin für Risiken von Atomanlagen, sagte: "Dass die Atomaufsicht auf dieser Basis Laufzeitverlängerungen ohne umfassende Sicherheitsüberprüfungen genehmigt, ist aus fachlicher Sicht nicht vorstellbar." Ein sicherer Betrieb der Reaktoren nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik sei nicht gewährleistet.
Becker betonte, selbst die Betreiber hätten festgestellt, "dass auch ein kurzer Weiterbetrieb nur möglich wäre, wenn der Anspruch an Sicherheitsprüfungen massiv verringert oder umfangreiche Nachrüstungen nicht vorgenommen werden".
Der Geschäftsführer des Tüv-Verbandes, Joachim Bühler, hat dagegen keine Sicherheitsbedenken. Er hält sogar eine Wiederinbetriebnahme der zuletzt stillgelegten AKW Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C für unbedenklich. Das Wiederanfahren der 2021 abgeschalteten Meiler sei binnen weniger Wochen oder Monate möglich. Die drei AKW seien "in einem sicherheitstechnischen Zustand, der es möglich machen würde, sie wieder ans Netz zu nehmen", sagte er in einem Interview.
Warnungen vor Phantomdebatte
Der BUND-Vorsitzende Olaf Bandt nannte die Forderungen nach einem Weiterbetrieb populistisch. "Energie aus Atomkraft ist unsicher, unrentabel und unnötig", sagte er. Wer angesichts der drohenden Gasengpässe behaupte, nur mit Atomkraft einen warmen Winter ermöglichen zu können, führe eine Scheindebatte und rechne die Leistungsfähigkeit der AKW schön.
Für die Energieversorgung spiele Atomenergie mit einem Anteil von etwa einem Prozent am Endenergieverbrauch weder kurz- noch mittelfristig eine wesentliche Rolle, so Bandt. Sowohl die Opposition als auch die Regierungsparteien seien dabei, den 2011 nach Fukushima von einem breiten Konsens getragenen Atomausstieg leichtfertig zur Disposition zu stellen.
CDU-Chef Friedrich Merz hatte die Bundesregierung aufgefordert, umgehend neue Brennstäbe für die drei AKW zu beschaffen. Ein vorübergehender "Streckbetrieb" mit den bisher genutzten Brennelementen reiche nicht aus. "Wir müssen einen Weiterbetrieb so lange ermöglichen, bis die Gefahr eines Engpasses beseitigt ist", sagte Merz. Die Zeit zur Bestellung neuer Brennstäbe laufe davon. Nach Angaben der AKW-Betreiber dauert es mindestens ein Jahr von der Bestellung bis zur Auslieferung.
Auch der FDP gibt es Überlegungen, über den Streckbetrieb hinauszugehen. Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte, es sei durchaus möglich, dass Deutschland angesichts der Energiekrise noch für längere Zeit auf Atomkraft zurückgreifen müsse. "Es geht nicht um viele Jahre, aber möglicherweise müssen wir uns mit dem Gedanken anfreunden, auch im Jahr 2024 etwa noch Kernenergie zu brauchen", sagte er.
Der FDP-Energiepolitiker Michael Kruse forderte einen "Kernenergiegipfel" von Bundesregierung und AKW-Betreibern, um Sicherheitsfragen und die Bestellung von Brennelementen zu klären. Er brachte Laufzeiten bis zum Frühjahr 2024 ins Spiel.
Der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) forderte jüngst eine Wiederinbetriebnahme des stillgelegten Reaktors Gundremmingen C nahe Augsburg. "Wir brauchen Gundremmingen, um die Versorgungssicherheit mit Strom und das Einsparen von Gas zu ermöglichen", sagte Aiwanger.
Dem widersprachen sowohl der AKW-Betreiber RWE als auch der Günzburger Landrat Hans Reichhart energisch. Aiwanger, so der CSU-Landrat, führe eine "Phantomdiskussion", die nicht weiterhelfe.
Lesen Sie dazu unseren Kommentar: Achtung, Spaltung