Mit einem "Flanierquartier auf Zeit" hatte das Projekt "Ottensen macht Platz" geworben. Nun war die Zeit doch allzu knapp: Für sechs Monate – genau bis zum morgigen Samstag – hätten zwei Straßen im Hamburger Stadtteil Ottensen weitgehend autofrei sein sollen, wissenschaftlich begleitet von der örtlichen Technischen Universität.
Die Straße als Begegnungsstätte statt als Blechdschungel, so die Idee. Durch ein Gerichtsurteil wurde das Experiment aber nach nur fünf Monaten abgebrochen.
In Deutschland läuft die Verkehrswende einfach nicht an. Dabei zeigen Umfragen, dass die meisten Menschen grundsätzlich dafür sind, klimafreundlicher von A nach B zu kommen.
Eine Umfrage im Auftrag des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) hat im vergangenen Jahr beispielsweise ergeben, dass 69 Prozent von 7.000 Befragten gesonderte Bus- und Bahnspuren befürworten. Dem Ausbau von Fahrradwegen stimmte immer noch die Hälfte zu, selbst wenn dafür Autoparkplätze wegfallen würden. Drastischere Eingriffe in die Autonutzung wurden hingegen kritischer gesehen.
Und selbst die Erprobung des Lebens ohne oder zumindest mit weniger Autos gestaltet sich oft schwer, wie das Beispiel Ottensen zeigt.
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Zakia Soomauroo, die in einer Kooperation zwischen dem Mercator Research Institute on Global Commons und dem Reiner Lemoine Institut promoviert, hat nun in einer Studie vorgeschlagen: Schaut auf die kleinen Inselstaaten! Die machen die Verkehrswende vor, wie Soomauroos Forschungsergebnisse zu Mauritius im Indischen Ozean, Fidschi im Pazifik und Barbados in der Karibik nahelegen.
Inselstaaten sind gute Reallabore
Dort lebt der Großteil der Bevölkerung auf wenige Städte und teilweise entlang der Küste verteilt. Die Straßensysteme sind eher klein – und infolge des Autobooms mittlerweile oft verstopft. Wie Soomauroo und ihre Ko-Autoren feststellen, sind das gute Bedingungen für öffentlichen Verkehr kombiniert mit Elektroautos.
Und am wichtigsten: Anders als ein Stadtviertel wie Ottensen sind die Hauptinseln der kleinen Staaten komplett von anderen Verkehrssystemen abgeschnitten.
"Ich komme aus einem kleinen Inselstaat, nämlich Mauritius", erzählt Soomauroo. "Ich vergleiche im Kopf immer: Hier in Berlin kann ich nachts um vier Uhr in eine U-Bahn steigen, bei meiner Großmutter in Mauritius gibt es oft nicht mal einen Bus um neun Uhr abends."
Dabei ginge es anders, meint die Ökonomin. "Kleine Inselstaaten sind sogar gut für intelligente erneuerbare Verkehrssysteme geeignet, sie können hier Vorbilder sein."
"In Deutschland gibt es zu viel Widerstand"
Auch der Verkehrssoziologe Andreas Knie von der TU Berlin kann Soomauroos Ansatz einiges abgewinnen. "Wir brauchen experimentelle Räume, die räumlich und zeitlich abgetrennt sind", sagt er.
Theoretisch könnte man auch einzelne Viertel oder kleine Städte innerhalb eines Projekts zeitweise wie Inseln behandeln – und neue Wege der Fortbewegung einfach mal ausprobieren. In Ottensen wurde genau das versucht, in anderen deutschen und internationalen Städten gibt es ähnliche, meist kleine Projekte.
Allzu oft gebe es aber schon vorab Widerstände, berichtet Knie aus seiner Forschungspraxis. Die örtlichen Behörden befürchteten dann, dass die Anbindung an das restliche Verkehrssystem leiden könne. "Oft sorgt man ich zum Beispiel um die Pendler, die ja eingebunden werden müssen", berichtet Knie.
Ob die Pendler:innen sich an dem neuen Carsharing-System, an ein paar autofreien Straßen oder anderen Innovationen überhaupt stören würden, findet man dann nur leider niemals heraus.
Anders gesagt: Deutschland hat sich über Jahrzehnte in ein Gefangenendilemma hineinmanövriert. Gesetze, Infrastruktur, Industrie und Gesellschaft sind so stark auf das private Auto ausgerichtet, dass sich kaum jemand traut, auch nur probehalber aus dieser Ordnung auszubrechen. Hätte man von dem jeweils anderen Player etwas zu befürchten?
Die nötigen Technologien gibt es schon
Das Problem haben Fidschi, Mauritius, Barbados und andere kleine Inselstaaten weniger. Hinzu kommt, dass der Bevölkerung auf den kleinen Inseln die Auswirkungen der Klimakrise seit Jahrzehnten schmerzlich bewusst seien, meint Soomauroo. Dort sei man deswegen viel eher bereit, sein Verhalten zu ändern.
Aus Interviews mit örtlichen Unternehmen und Ministerien weiß die Wissenschaftlerin zudem, dass die wichtigste Industrie der Inselstaaten den ökologischen Wandel sogar positiv sieht: der Tourismus. Man habe die Erfahrung gemacht, dass Reisende in Experimentierlaune seien – nicht nur in kulinarischen Fragen, sondern auch in Sachen Mobilität.
Eine eigene Autoindustrie haben die Inseln ohnehin nicht, fossile Treibstoffe müssen teuer importiert werden. Die Inselstaaten sind nicht nur von anderen Verkehrssystemen getrennt, sondern auch vom Einfluss der fossilen Industrie.
"Die Technologien, die nötig wären, gibt es schon", sagt Soomauroo. "Es sollte einen stärkeren Wissens- und sicher auch Geldtransfer hin zu den kleinen Inselstaaten geben, damit danach die Welt von den Inselstaaten lernen kann."
Sie erhofft sich auch einen komplexeren Blick auf die Inselstaaten: "Über kleine Inselstaaten wird oft romantisiert gesprochen: Es sind diese wunderschönen Orte, die weit weg sind und nun auch noch tragischerweise besonders unter der Klimakrise leiden, die sie nicht selbst verursacht haben."
Das stimme natürlich auch, sagt Soomauroo. "Selbst in der Klimagerechtigkeitsbewegung im globalen Norden wird aber manchmal vergessen, dass diese Inseln eigenes Potenzial haben."
Redaktioneller Hinweis: Andreas Knie ist Mitglied des Herausgeberrats von Klimareporter°.