Durch einen Torbogen schauen wir auf eine ebene sandige Fläche zwischen Häusern, in der Mitte ein Brunnen, an dem Kinder mit Gießkannen spielen. Große Bäume stehen zwischen den Häusern, ein Lastenrad vor einem Laden, in dem Menschen einkaufen. Viele Fahrr
Straßen verändern heißt Gesellschaft verändern. (Grafik: Manifest der freien Straße/​Paper Planes e.V.)

In Berlins Innenstadtbezirken gibt es bereits seit 2015 Pilotprojekte und Maßnahmen, die auf eine Erhöhung der urbanen Lebensqualität zielen. Es geht darum, den öffentlichen Raum gerecht aufzuteilen, was mit einer Verringerung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) verbunden ist.

Nach verkehrsberuhigenden Maßnahmen wie der Begegnungszone in der Maaßenstraße (Schöneberg) oder in der Bergmannstraße (Kreuzberg) soll nun im Rahmen eines Modellprojekts der Kreuzberger Graefekiez zeitweilig frei von öffentlichen Parkplätzen werden.

Bei diesen Beispielen geht es um innerstädtische Kieze, die von Gentrifizierung und damit einhergehend von steigenden Mieten betroffen sind. Gentrifizierung wird dabei verstanden als "der Prozess, bei dem Haushalte mit höherem Einkommen Einwohner:innen eines Stadtviertels vertreiben und somit dessen essenziellen Charakter und Flair verändern".

Der Versuch, den Autoverkehr einzuschränken, provoziert auch in diesen Fällen heftige Debatten. Über die Umgestaltung der Bergmannstraße wurde von Beginn an heiß gestritten. Heute wird der Umbau, der 2018 zur dauerhaften Lösung wurde, von den Bürger:innen sehr gut angenommen.

Ähnliches ließ sich auch in der Maaßenstraße beobachten. Zu Beginn der Umbauten gab es viel Kritik und Diskussion, vor allem bei den Gewerbetreibenden. Auch wenn weiterhin nicht alle mit den Umbauten zufrieden sind, ist die dortige Begegnungszone mittlerweile ein häufig genutzter und attraktiver Ort für Anwohner:innen und Besucher:innen.

In dem bald startenden, sechsmonatigen Modellversuch im Graefekiez soll das Abstellen privater Pkw im öffentlichen Raum nicht mehr gestattet sein. Fußgänger:innen und Radfahrer:innen sollen mehr Platz bekommen, Parkplätze als Treffpunkte, Spielflächen oder zum Gärtnern genutzt werden können.

Auch hier hat die kritische Debatte nicht lange auf sich warten lassen. Timur Husein, CDU-Kreisvorsitzender aus Friedrichshain-Kreuzberg, findet, der Versuch sei unsozial und bevorzuge wohlhabende Autofahrer:innen mit Garagen, Hinterhöfen oder sonstigen privaten Stellplätzen.

Der Bezirksverordnete Michael Heihsel (FDP) kritisiert im Tagesspiegel das Projekt als undurchdacht: Es würde nur Verkehr in anliegende Straßen verdrängen.

Generelle Kritik übt Raed Saleh, Fraktionsvorsitzender der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus. Er warnt vor den sozialen Folgen der Verkehrswende: "Eine falsch verstandene Verkehrswende nur in der Innenstadt darf nicht zu mehr Gentrifizierung führen." Die Erhöhung von Parkgebühren oder gar eine City-Maut könnten ihren Teil zu weiterer Gentrifizierung beitragen.

Die meisten haben hier kein Auto

Aber stimmt das? Führt der Abbau von Privilegien für das private Auto zu weiterer Gentrifizierung?

Nach Ansicht von Husein werden wohlhabende private Autofahrer:innen bevorzugt, weil sie sich eigene Parkplätze leisten können. Das ist nicht ganz falsch, sie sind damit ohnehin im Vorteil gegenüber anderen, die sich die Kosten für private Stellplätze nicht leisten können oder wollen.

Porträtaufnahme von Panagiotis Loukaridis.
Foto: Thomas Bönig

Panagiotis Loukaridis

ist Mobilitäts­experte und -berater bei der Nuts One GmbH in Berlin. Der Human- und Stadt­geograf beschäftigt sich mit automatisiertem Fahren, Machbarkeits­analysen und urbaner Mobilität. Er setzt sich für eine menschen­gerechtere Stadt ein.

Allerdings trifft die Aussage das Problem nicht wirklich. Denn die Pkw-Dichte in Berlin ist mit 335 Pkw pro 1.000 Einwohner:innen im Vergleich zu allen anderen Bundesländern sehr gering. Nur ein Drittel der Berliner:innen besitzt überhaupt ein Auto.

Innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings, also auch in den genannten Kiezen, sind es noch weniger. Nach der letzten Verkehrserhebung haben knapp 58 Prozent der Haushalte keinen Pkw oder ein motorisiertes Zweirad. Hier hat nur jede:r Vierte ein eigenes Auto.

Husein blendet darüber hinaus die Vorteile eines parkplatzfreien und verkehrsberuhigten Kiezes aus. Kiezbewohner:innen, die keinen Zugang zu grünen Innenhöfen oder eigenen Gärten haben, profitieren immens von umgenutzten Parkplätzen vor ihrer Haustür. Der aktiv nutzbare städtische Raum in ihrer unmittelbaren Umgebung wird größer.

Gleichzeitig profitieren alle Bewohner:innen von begrünten ehemaligen Parkplatzflächen durch sauberere Luft und besseres Stadtklima. In zunehmend heißen Sommern ist das ein Argument. Wie die meisten Innenstadtquartiere in Berlin ist gerade Friedrichshain-Kreuzberg extrem dicht bebaut und hat bisher wenig Grünflächen und Parks.

FDP-Politiker Heihsel kritisiert die Verdrängung des Verkehrs in anliegende Straßen als Folge der Sperrung. Das kann eintreten, vor allem der Parksuchverkehr kann sich verlagern.

Dem kann entgegengesteuert werden, indem andere Verkehrsarten gestärkt werden und nicht zuletzt der öffentliche Verkehr ausgebaut wird. Dieser nicht gewollte Effekt ist allerdings ein weiteres Argument, im gesamten Innenstadtbereich eine flächendeckende Parkraumbewirtschaftung – am besten gleich eine City-Maut – einzuführen.

Gentrifizierung hat andere Ursachen

Ist der Modellversuch erfolgreich, dürfte der Autoverkehr generell weniger werden, nicht nur im Versuchsgebiet. Weniger Autoverkehr würde umgekehrt das Zufußgehen und vor allem das Fahrradfahren attraktiver machen, allein schon aus Gründen erhöhter Sicherheit.

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Die Beiträge erscheinen zugleich im WZB-Blog der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität.

Berlins SPD-Fraktionschef Saleh hingegen, der vor den sozialen Folgen der Verkehrswende warnt und ihr eine Teilschuld für Gentrifizierung zuweist, macht es sich ziemlich einfach. Er macht die Verkehrswende zum Sündenbock für die Verdrängung. Allerdings sind die Gründe für Gentrifizierung sehr vielschichtig – und sie geht Verkehrsberuhigungsmaßnahmen in aller Regel voraus.

Die Hauptgründe für Gentrifizierung liegen in der Mieten- und Wohnpolitik. Sie ist deshalb auch mit diesen Mitteln zu bekämpfen: Mietpreisobergrenzen, Milieuschutz, kommunaler und vor allem genossenschaftlicher Wohnungsbau sowie Belegungsrechte sind die wichtigsten Instrumente, um Luxusmodernisierung und Verdrängung zu verhindern.

Die Bezahlbarkeit von Wohnungen hängt nicht davon ab, ob es vor der Haustür grün ist, ob es mehr Platz für Fahrräder und Fußgänger:innen gibt oder keine Autoparkplätze vorhanden sind, sondern von der Politik und den gesetzlichen Vorgaben.

Die Verkehrswende ist mehr als nur der Umstieg vom Auto auf andere Verkehrsmittel. Verkehrswende bedeutet bessere Mobilität, besseres Leben und mehr Gesundheit für alle in verkehrlich stark belasteten Städten. Die Projekte in den Berliner Innenstadt-Kiezen erbringen dafür den Beweis.

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