Das Atomkraftwerk Isar 2 nahe dem niederbayerischen Landshut, bei Nacht aufgenommen.
Isar 2 in Niederbayern gehörte zu den drei AKW-Blöcken, denen noch bis zum 15. April der sogenannte Streckbetrieb gewährt wurde. (Foto/​Ausschnitt: Uwe Kohlmaier/​Wikimedia Commons)

Bis kurz vor Ultimo versucht die Atomkraft-Lobby noch, den Betrieb der letzten drei deutschen AKW zu verlängern. Die FDP erkennt sogar noch sechs Standorte, die für bessere Zeiten eingemottet und so gerettet werden könnten.

Zu den intelligenteren Argumenten in der Debatte gehört derzeit der Hinweis, es wäre doch klüger gewesen, zuerst aus der fossilen Kohle- und dann erst aus der Atomverstromung auszusteigen.

Mit einem – möglicherweise sogar vorgezogenen – Kohleausstieg drohe eine Stromlücke, die die Stabilität des Netzes gefährde, heißt es dazu. Zwar sollen als Kohleersatz tausende Megawatt sogenannter wasserstofffähiger Gaskraftwerke gebaut werden – doch bis die am Netz sind, wäre es doch gut, AKW in der Reserve zu haben, insistiert die Atomlobby.

Neu ist das Argument mit der "Stromlücke" nicht. Eine solche hatte die Deutsche Energieagentur (Dena) schon einmal entdeckt – und zwar 2008 in einer Studie. Schon damals drohte allerdings kein Blackout, sondern die Dena bezog sich auf die sogenannte Jahreshöchstlast.

Da geht es um den fiktiven Fall, wenn alle Verbraucher plötzlich unbedingt Strom brauchen und dafür nur Kohle, Atomkraft, Biomasse und Pumpspeicherwerke zur Verfügung stehen. Wind und Sonne werden in diesem Planspiel bei nahe null angenommen.

Nun – 2008 hatten die erneuerbaren Energien gerade mal einen Anteil von knapp 15 Prozent am Strommarkt. Da war es nicht einfach, eine gravierende "Stromlücke" zu entdecken, wenn die Sonne nicht scheint oder der Wind mal nicht weht. Zudem kamen zwischen 2000 und 2012 allein bei Braunkohle rund 5.000 Megawatt neue Kapazitäten hinzu.

So konnte die Dena für 2015 gerade mal eine "Lücke" von 2.800 Megawatt errechnen. Bis 2020 kam sie auf etwa 12.000 Megawatt.

Mit der sich später einstellenden Realität haben solche Prognosen nichts zu tun. Ihr Hauptzweck – und der der "Stromlücke" – war es denn auch, die Laufzeiten der deutschen AKW zu verlängern.

Zwar hatte sich die Atombranche 2002 gesetzlich verpflichtet, keine neuen kommerziellen AKW mehr zu bauen. Neubauten waren und sind in Deutschland ohnehin nicht durchsetzbar. Mit längeren Laufzeiten alter, abgeschriebener Reaktoren hätte sich aber noch prächtig Geld verdienen lassen.

Wer gegen Atom und Kohle ist, gilt als "Fundamentalist"

Natürlich reagierten schon damals Umweltschützer, unter anderem Greenpeace, auf die entdeckte "Stromlücke" mit der Kritik, hier werde Atomkraft zum Retter des Klimas und zum Garanten für niedrige Strompreise und eine sichere Stromversorgung erklärt, obwohl dies jeder Grundlage entbehre – was sich später auch bewahrheitete.

Zudem prangerte die Umweltbewegung damals die Doppelzüngigkeit der Konzerne an. Denn dieselben Betreiber, die mit der Atomkraft angeblich das Klima schützen wollen, hatten zur Jahrtausendwende ungeniert ein massives Ausbauprogramm für Kohlekraftwerke gestartet.

Und auch damals wurde den Umweltschützern wiederum "Fundamentalismus" vorgeworfen, weil man doch nicht gleichzeitig gegen Atom und Kohle sein könne.

Die Narrative vor 15 Jahren und heute gleichen sich, taten damals aber ihre Wirkung. Im Oktober 2010 beschloss der Bundestag mit der Mehrheit von CDU und FDP die AKW-Laufzeitverlängerung. Die Meiler sollten mehr als ein Jahrzehnt länger am Netz bleiben – der letzte so bis 2035.

Den atomaren und fossilen "Stromlücken"-Propheten kamen nur drei Dinge dazwischen: der Super-GAU von Fukushima, der etwa ab 2010 in Deutschland einsetzende Boom der Erneuerbaren sowie der wachsende politische Druck durch den Klimawandel.

Mit dem dreifachen Super-GAU von Fukushima im März 2011 war die Laufzeitverlängerung vom Tisch, schon im Juni desselben Jahres beschloss Schwarz-Gelb den Atomausstieg bis 2022.

Gleichzeitig erschreckte auch der Erneuerbaren-Boom die etablierten Konzerne. Von 2010 auf 2011 sprang der Anteil der Erneuerbaren am Strommarkt von 19 auf über 23 Prozent – ein Viertel des Stroms war bereits ergrünt.

"Stromlücke" hilft die Energiewende abzuwürgen

Daraus zog die Bundesregierung aber nicht den Schluss, auf die Erneuerbaren zu setzen, um die von ihr mitpropagierte "Stromlücke" zu schließen, sondern sie tat das Gegenteil: Die Energiewende wurde abgewürgt.

Der damalige Umweltminister Peter Altmaier (CDU) strich zunächst die EEG-Förderung für den Solarstrom zusammen. Der Solarausbau stürzte von mehr als 8.000 Megawatt jährlich auf unter 2.000 Megawatt ab und kommt erst jetzt wieder ans einstige Niveau heran.

Ein ähnlicher Knick folgte ab 2017 bei Wind an Land unterm damaligen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD). Der Einbruch beim Ausbau resultierte vor allem aus dem Übergang zu wettbewerblichen Ausschreibungen und aus restriktiven Abstandsregeln.

Eine Studie des Thinktanks Energy Brainpool im Auftrag des Solarunternehmens GP Joule kam vor einiger Zeit zum Ergebnis: Bei einem "knickfreiem" Ausbau könnten heute schon bis zu 30.000 Megawatt Windkraft und bis zu 20.000 Megawatt Photovoltaik mehr am Netz sein.

Wäre das der Fall, würde sich die Frage, ob man zuerst aus Atomkraft oder aus Kohle hätte aussteigen sollen, gar nicht mehr stellen. Ein "knickfreier" Ausbau hätte zudem ein früheres Abschalten der Kohlekraftwerke ermöglicht. Aber auch hier lieferte die lobbyistisch ausgebremste Energiewende die Argumente für den Weiterbetrieb der fossilen Anlagen.

Weil Deutschland sein Klimaziel für 2020 krachend zu verfehlen drohte, hatte Wirtschaftsminister Gabriel im März 2015 eine Klimaabgabe für die "schmutzigsten" Kohlekraftwerke ins Spiel gebracht.

Ein Vierteljahr später war der Vorschlag vom Tisch, der Kohleausstieg hinausgeschoben. Die Kohlelobby in West und Ost hatte ganze Arbeit geleistet. Kohle sei eine "Brückentechnologie", die noch für viele Jahre "unverzichtbar" sei, lautete die am Ende erfolgreiche Erzählung. Beim Klimaproblem gab und gibt es eben kein Fukushima-Moment, das alles verändert.

"Korrektur" der alten durch neue Fehlentscheidungen

Der so über ein Jahrzehnt verzögerte Erneuerbaren-Ausbau fällt Deutschland jetzt bei Energiewende und Klimapolitik auf die Füße. Es droht sogar ein ungeordneter, marktgetriebener Ausstieg aus der Kohle. Diese und andere Folgen früherer Fehlentscheidungen, bei denen man blind Lobbyinteressen vertraute, sollen nun dadurch "korrigiert" werden, dass AKW auf Kosten der öffentlichen Hand in Reserve gehalten werden.

Absurder und kurzsichtiger kann Lobbyismus nicht sein. Heute kann es nicht darum gehen, dem Pseudoschmerz über drei alte Atommeiler zu folgen, sondern es gilt, möglichst schnell eine klimaneutrale Stromversorgung auf erneuerbarer Basis zu schaffen.

Selbst der Betrieb der restlichen Atomanlagen habe bereits den Umstieg zu erneuerbaren Energien behindert, meint die Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Atomkraftwerke seien zu unflexibel für die Kombination mit Erneuerbaren und blockierten den Weg zu einer echten Energiewende, so Kemfert.

Auch deshalb wäre es fatal, weiter auf die Narrative der Atom- und Kohlelobby zu hören. Sie stimmten schon vor 15 Jahren nicht und haben nur den Wandel verhindert, verzögert und verteuert. Die Argumente pro Atom und pro Kohle und ihre Lobby verdienen den politischen Blackout.

Redaktioneller Hinweis: Claudia Kemfert ist Mitglied des Herausgeberrats von Klimareporter°.

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