Die Regierungsbank mit Frank Walther Steinmeier, Sigmar Gabriel und Angela Merkel in der ersten Reihe
Bundeswirtschaftsminister Gabriel lässt sich von Lobbybriefen mehr beeindrucken als von einer drohenden Blamage für sein Land vor der Welt – Kanzlerin Merkel hält das ähnlich. (Foto: Tobias Koch/​OTRS/​Wikimedia Commons)

Der 24. Juni 2015 ist ein bitterer Tag für Sigmar Gabriel. Der damalige SPD-Wirtschaftsminister ist eingeladen, auf dem Kongress des Branchenverbandes BDEW zu sprechen. Wochenlang haben die Interessenvertreter der Energiewirtschaft Gabriels Plan attackiert, in dieser Legislaturperiode den ersten Schritt in Richtung Kohleausstieg zu unternehmen.

Nun könnte der Minister die Gelegenheit nutzen, für sein Vorhaben zu kämpfen. Er könnte sagen, dass Deutschland die "Klimaabgabe" braucht. Dass es anders nicht geht, weil das Klimaziel für 2020 sonst perdu ist. Weil der gute Ruf des Landes als Energiewende-Vorreiter sonst verspielt wird. Weil die Lage ernst ist. Doch dann geschieht etwas völlig anderes. Es ist ein Lehrstück, das exemplarisch zeigt, warum beim Klimaschutz in Deutschland seit Jahren Stillstand herrscht und gegen die großen Energiekonzerne anscheinend nichts auszurichten ist.

Die Bundesregierung hat sich 2013 das Ziel gesetzt, bis 2020 rund 40 Prozent der deutschen Emissionen im Vergleich zu 1990 einzusparen. Das Ziel kann die Regierung nicht mehr erreichen: sie müsste in den nächsten drei Jahren noch 160 Millionen Tonnen jährliche Emissionen einsparen. Das ist das Vierfache dessen, was in den letzten Jahren geschafft wurde.

Klimareporter und das Recherchezentrum Correctiv beschreiben in dieser Serie die klaffende Lücke zwischen dem Klimaschutz der Bundesregierung und dem, was für das Erreichen der Ziele tatsächlich notwenig gewesen wäre. Die Bundesregierung schaffte es 2013 nicht, verbindlich festzulegen, welche Branche welchen Beitrag leisten sollte. Die Serie schlüsselt deshalb auf, was in den vier klimaschädlichsten Bereichen – Verkehr, Energie, Landwirtschaft und Gebäude – hätte passieren müssen.

Seit 2009 sind Deutschlands Emissionen unter dem Strich nicht mehr gesunken, die der Energiewirtschaft sogar seit 1996 nicht mehr. Was an wirklichen Einsparungen geschafft wurde, geht größtenteils auf die Stilllegung alter Kraftwerke und den Zusammenbruch der Industrie der früheren DDR Anfang der 1990er Jahre zurück.

Der Plan der Fachleute

Als Gabriel nun mehr als 20 Jahre später beim BDEW ans Rednerpult tritt, liegen gerade neue Zahlen vor. Sie zeigen, dass die Bundesrepublik ihr Ziel, die Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken, noch krachender verfehlen wird, als ohnehin schon befürchtet. Deutschland müsste noch 160 Millionen Tonnen jährliche CO2-Emissionen einsparen.

Auch die Energiewirtschaft soll dazu beitragen, findet Gabriel. Schließlich ist sie für ein Drittel der deutschen Klimalast verantwortlich. Die Einsparmarke für die Branche ist moderat: 22 Millionen Tonnen CO2.

Um das zu schaffen, tüfteln Gabriels Fachleute monatelang an einem neuen Instrument: der Klimaabgabe. Schritt für Schritt sollen damit die besonders alten und ineffizienten Braunkohlekraftwerke aus dem Markt gedrängt werden. Also genau die Anlagen, die Deutschlands Klimabilanz bislang so dramatisch verhageln.

Gabriel knickt ein

Gabriel ist damals ein mächtiger Mann. Er ist SPD-Chef, Vizekanzler, Superminister für Wirtschaft und Energie. Hinter Kanzlerin Angela Merkel vom großen Koalitionspartner CDU ist er in der Regierung die Nummer zwei. Mit Merkel hat er die Klimaabgabe abgesprochen und sich vorab Rückendeckung geholt.

Und doch kämpft Gabriel nicht, als er beim BDEW vor den Gegnern seines Plans redet. Er tut etwas anderes. Er hebt zu einer erstaunlichen philosophischen Reflexion über das Wesen der Politik an. "Politik", sagt er, "stellen sich manche ja vor wie ein Seil. Man zieht an der einen Stelle und an der anderen bewegt es sich. Es ist inzwischen aber längst ein Netz. Und wenn man an einer Stelle zieht, bewegt es sich vermutlich an vielen Stellen. Und insbesondere da, wo man gar nicht will, dass es sich bewegt."

Es lohnt sich, die kurze Geschichte der Klimaabgabe noch einmal im Schnelldurchlauf zu betrachten. Dann sieht man, wie eine sehr große Koalition aus Bremsern und Blockierern aus Parteien, Energieriesen, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften perfekt zusammenarbeitet, um den Status quo zu erhalten. Ihr gemeinsames Ziel: verhindern, verwässern, verschieben.

 

Am 19. März 2015 wird die Klimaabgabe im "Eckpunkte-Papier Strommarkt" erstmals publik, 14 Wochen vor Gabriels BDEW-Auftritt. Energieexperten und Umweltverbände loben den Vorschlag als klugen ersten Schritt zum Ausstieg aus der Kohle. So könnte es gehen, meinen sie.

Doch die ältesten und schmutzigsten Kohlemeiler vom Netz zu nehmen, heißt, sich mit dem Kohle-Netzwerk in Nordrhein-Westfalen anzulegen. Dort, an Rhein und Ruhr, stehen neben ostdeutschen Kraftwerken die meisten der Uralt-Blöcke.

Die Energiekonzerne schalten sofort auf Gegenangriff. Der damalige RWE-Chef Peter Terium ruft Hannelore Kraft (SPD) an, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin. Der Konzern hat bislang die Energiewende ignoriert. Die Braunkohle in alten, abgeschriebenen Meilern zu verstromen ist nach wie vor ein Riesengeschäft. Das soll noch so lange wie möglich Gewinne abwerfen. Viele, oftmals SPD-regierte Städte in dem Bundesland halten große Aktienpakete von RWE, schon allein deshalb hat Kraft ein offenes Ohr für Terium. Das Netz wird aktiv.

Energiekonzerne verbünden sich mit Gewerkschaften

Terium schaltet auch Michael Vassiliadis ein, den mächtigen Boss der Bergbau- und Energiegewerkschaft IG BCE. Vassiliadis ist einer der glühendsten Kohle-Verfechter der Republik. Er spricht von einer "Brückentechnologie", die noch für viele Jahre "unverzichtbar" sei. Von den Energiekonzernen spricht er, als sei er selber ihr Besitzer. "Ich", sagt er, "musste schon viel zu viele Leute entlassen." Klimaschutz sei zwar gut und schön, aber: Wenn ein Land mit 80 Millionen Einwohnern etwas weniger Klimagase ausstößt, falle das im Weltmaßstab kaum ins Gewicht. Länder wie China sollten erst mal liefern.

Mit dem SPD-Mitglied Vassiliadis haben die Energiekonzerne einen besonders schlagkräftigen Verbündeten. Seine Gewerkschaft beauftragt die US-Investmentbank Lazard, einen Branchenriesen, der sonst auf Fusionen spezialisiert ist, mit einem Gutachten. Das Ergebnis hört sich bei Vassiliadis so an: "Mit der Klimaabgabe wären die Unternehmen weg." Und: "Das kann ich nicht zulassen." Auf der Studie prangen die Logos der Kohleverstromer RWE, Vattenfall, Mibrag und EnBW. Sie haben für das zwanzigseitige Werk die Zahlen geliefert und geben gerne Rechenhilfe: Das Aus für die ältesten Blöcke werde auch die moderneren Kohleblöcke mit in die Tiefe reißen. Die Schreckensformel vom "Domino-Effekt" wird geboren.

Nun macht das Netzwerk öffentlich mobil. Die Betriebsräte von Vattenfall versammeln sich Ende März, kaum zwei Wochen nach Bekanntwerden von Gabriels Plänen, in Jänschwalde, wo ein großes Braunkohlekraftwerk steht. Das Motto: "Es ist 5 vor 12!" Auf dem Aufruf streckt ein Bergarbeiter seine ablehnende Hand vor, auf der "Nicht an unsere Kohle!" geschrieben steht.

Unterdessen nutzen die Länderchefs von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg eine Bundesratssitzung zur Generalabrechnung mit Gabriels "Strafabgabe für Kraftwerke". Der Tenor: Ostdeutschland habe durch den Zusammenbruch seiner Industrie nach der Wende schon überproportional Emission gesenkt.

Ende April lässt Vassiliadis 15.000 Mitglieder seiner Gewerkschaft nach Berlin karren und vom Wirtschaftsministerium zum Kanzleramt ziehen. Auf Plakaten und Transparenten wird Gabriel persönlich hart angegriffen. "Er war mal einer von uns", heißt es neben einem Porträtfoto, das den SPD-Chef mit heruntergezogenen Mundwinkeln zeigt. "Regierungs-Idiot bringt Familien in Not." Und: "Stoppt den Wahnsinn". Die Bilder sind Topthema in den Nachrichten.

Dem Wirtschaftsminister entgleitet die Kontrolle

Gabriel ist die Kontrolle entglitten. Gegen die Behauptungen seiner Gegner kommt er nicht an. Dass in den Braunkohle-Regionen ein "Strukturbruch" drohe. Dass massenhaft Arbeitsplätze vernichtet würden. Bis heute rätseln Insider, wie einem Polit-Profi wie Gabriel das passieren konnte.

Nun zeigt sich auch, dass die Rückendeckung der Kanzlerin keineswegs so klar und sicher war, wie es zunächst scheinen mochte. Beim "Petersberger Klimadialog" mit internationalen Partnern Mitte Mai in Berlin fordert Merkel zwar die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft und lächelt in alle Kameras. Bei Gabriels Klimaabgabe aber laviert sie herum. "Es gibt Gründe, die für den Vorschlag sprechen", sagt sie. Doch erstmal müsse "genau gerechnet werden".

Damit ist der Plan de facto tot. Unpopuläre Maßnahmen bindet Merkel sich nicht ans Bein. Jetzt kann es nur noch darum gehen, einen Alternativvorschlag zu entwickeln, der niemandem weh tut.

Das tut Gabriel Anfang Juni 2015 – gemeinsam mit Vassiliadis und Kanzleramtschef Peter Altmaier von der CDU. Mit dabei ist auch SPD-Wirtschaftsminister Garrelt Duin aus Nordrhein-Westfalen. Heraus kommt die "Kohle-Reserve". Sie ist quasi das Gegenteil der ursprünglichen Idee. Die Konzerne werden dafür entlohnt, dass sie sechs große Braunkohle-Blöcke für vier Jahre "bereithalten", um sie danach abzuschalten.

Die Kohle-Reserve ist auch ein Bonbon für NRW. Dort stehen viele der betroffenen Meiler. "Man hatte Angst ums Ruhrgebiet", sagt ein Sozialdemokrat, der Gabriel nahesteht. "Man wollte Eon und RWE helfen, die waren ja gerade in der Krise." Der SPD allerdings hilft die Entscheidung, anders als erhofft, nicht. Kraft erlebt bei der Landtagswahl am 14. Mai 2017 ein Debakel. CDU und FDP gewinnen – mit einer noch klimaunfreundlicheren Agenda.

Experten warnen indes, dass die Kohle-Reserve nicht die erhofften Einsparungen bringen wird. Viele Anlagen, die nun zur Reserve veredelt werden, wären ohnehin in den nächsten Jahren aus Altersgründen abgeschaltet worden. Zudem kostet das Vorhalten die Steuerzahler eine Milliarde Euro. Zu viel für zu wenig.

Experten warnen vergeblich

Trotzdem wird die Kohle-Reserve beschlossen, und zwar unter dem schönen Namen "Sicherheitsbereitschaft". Das Wort "Kohle" ist damit gleich mit entsorgt, es muss nicht einmal mehr ausgesprochen werden. Dass es ursprünglich um den Einstieg in den Kohleausstieg ging, ist nun auch sprachlich eliminiert.

Insider fürchten ein ähnliches Schauspiel auch bei der sogenannten Strukturwandel-Kommission. Das Gremium soll, so steht es im Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung, Ende 2018 Vorschläge präsentieren, wie für die Kohleregionen eine Zukunft ohne Kohle gestaltet werden kann. Wie man also irgendwann das hinbekommt, was man mit Gabriels Klimaabgabe sofort hätte haben können.

Die Befürchtung ist nicht aus der Luft gegriffen. Schon jetzt schiebt die geplante Kommission eine Bugwelle an Verzögerungen vor sich her. Eigentlich sollte sie schon in dieser Legislaturperiode ihre Arbeit aufnehmen. Dafür hätte der Klimaschutzplan 2050 allerdings pünktlich im Frühjahr 2016 fertig sein müssen. Doch der Entwurf hing monatelang in der Ressortabstimmung fest. Vor allem aus dem Verkehrs- und dem Landwirtschaftsministerium kamen immer wieder Änderungswünsche – eine Verspätung um mehr als ein halbes Jahr war die Folge. Beschlossen wurde der Plan in stark verwässerter Form erst im November 2016. Damit war die Strukturwandel-Kommission auf die nächste Wahlperiode verschoben.

Und auch das Wort "Kohle" ist wieder getilgt.

 
Dieser Beitrag ist eine Kooperation mit dem Recherchezentrum Correctiv. Die Correctiv-Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch ist es, mit gründlicher Recherche Missstände aufzudecken und unvoreingenommen darüber zu berichten.

Die Serie zur Klimabilanz der Bundesregierung

Teil 1: Der Klima-Schmutzplan
Teil 2: Wie der Kohleausstieg vereitelt wurde
Teil 3: Warum die Wärmewende nicht kommt
Teil 4: Landwirte legen Klimaschutz lahm
Teil 5: Auto-Republik Deutschland