Rücken einer Person mit gelber Warnweste, darauf ein handgeschriebener Zettel:
Eine so massive Protestbewegung wie die Gelbwesten hat Präsident Emmanuel Macron nicht erwartet. (Foto: Ella Limoges/​Pixabay)

Ich hatte schon länger nicht mehr von Monsieur berichtet. Regelmäßige Leser dieser Kolumne wissen, dass Monsieur mein Französischlehrer ist, ein echter Franzose und somit Bürger jenes glücklichen Landes, in dem sich nur ein paar zehn- oder hunderttausend Leute gelbe Sicherheitswesten überziehen und ein bisschen Rabatz machen müssen, um ihrem Präsidenten die empfindlichste politische Niederlage seiner bisherigen Amtszeit zu bereiten. Etliche Milliarden zur Stärkung der Kaufkraft haben sie monsieur le président aus der Nase gezogen, wofür Macron sogar der EU-Defizitgrenze gefährlich nahe kommen wird.

Monsieur hat sich im Münchner Institut Français am Englischen Garten, wo er arbeitet, keine gelbe Weste übergezogen. Schließlich ist er bei aller zur Schau getragenen Unabhängigkeit ein loyaler Diener seines Staates. Doch er sympathisiert heftig mit den gilets jaunes und freut sich, wenn das Volk, was immer das sein möge, dem selbst ernannten roi soleil den Stinkefinger zeigt. Die Zeiten des vor allem von den deutschen Medien vergötterten Reformers im Élysée dürften der Vergangenheit angehören.

Auch mit der vom Ich-möchte-es-jedem-recht-machen-Präsidenten groß angekündigten transition écologique dürfte es so bald nichts werden. Wenn sie scheitert, dann wohl an der guten, alten sozialen Frage.

Leider ist eine nachhaltige Lebensweise allzu oft immer noch eine Frage des Geldes. Das habe ich jüngst selbst im Bioladen gespürt, wo die acht piekfeinen Rollen Öko-Klopapier von Memo, sozusagen der Ferrari unter den Hygienepapieren, nicht weniger als fünf Euro gekostet haben. Verzichten kann eben nur, wer etwas zu verzichten hat, so einfach ist das.

Ich hatte vor Weihnachten anlässlich eines Kurzaufenthaltes im Elsass persönlich Bekanntschaft mit den Gelbwesten machen können. Da hatten jeweils ein paar Dutzend Menschen, vorwiegend Männer, ein paar Verkehrskreisel besetzt, wie sie in Frankreich notorisch sind. Die Autofahrer warteten bereitwillig, bis sie durchgelassen wurden, manche hatten auf dem Armaturenbrett eine gelbe Sicherheitsweste liegen, als Zeichen der Solidarität.

Ich unterhielt mich ein wenig mit einem der Demonstranten, einem älteren Herren, der mich, einen Plastikbecher Wein in der Hand und ziemlich angeheitert, davon überzeugen wollte, dass man Macron bald gestürzt haben werde. Ich bezweifelte das, konnte aber trotzdem weiterfahren.

Für mich machte das alles den durchaus sympathischen Eindruck einer beschwingten Party widerständigen Bürgersinns, einer grande fête de la résistance, wie sie in Deutschland nie möglich wäre. Hier lassen sich sogar Millionen von Autofahrern ihre in bestem Ökoglauben gekauften Dieselautos stilllegen, ohne einen Mucks zu wagen.

Macron und seiner Regierung müssen die gilets jaunes jedenfalls einen mächtigen Schrecken eingejagt haben. Der Schock, dass ein Volk imstande sein kann, den eigenen, vorher unantastbaren König samt Königin auf die Guillotine zu schicken, sitzt offenbar noch tief.

Alle Bahnhöfe besetzen

Aber ich wollte ja von Monsieur erzählen. Monsieur arbeitet schon ziemlich lange in München, er hat sogar eine deutsche Freundin in einem Münchner Vorort, dessen Namen mir entfallen ist, weil er ihn mit einem schwer verständlichen, aber sehr drolligen Akzent ausspricht. Es ist eines der wenigen deutschen Worte, die er kennt.

Ein anderes lautet "Kurzzug". Das kennt Monsieur, weil er sich in eine Art permanenten Kleinkrieg mit den Münchner Verkehrsbetrieben und der Deutschen Bahn verstrickt sieht, denen er vorwirft, ihn nie rechtzeitig zum Flughafen zu bringen, von wo aus er in seine geliebtes Heimatland fliegen kann.

Kürzlich, so berichtete er mir empört, hätten in der "Ü"-Bahn-Station am Odeonsplatz gefühlt eine halbe Million Menschen auf den nächsten Zug gewartet. Dann sei endlich einer eingefahren, mit nur zwei Waggons, ein Kurzzug eben. Das Chaos sei unvorstellbar gewesen, sagte er und ging energisch im Klassenzimmer auf und ab. Früher hieß es immer, die Franzosen liebten die Deutschen nicht, aber sie hätten zumindest Respekt vor ihnen, ihrer legendären Ordnung, ihrer Pünktlichkeit, ihrem Organisationstalent. Das muss lange her sein.

Quel bordel!, seufzt Monsieur, was umgangssprachlich so viel heißt wie "welche Unordnung". Und an vielem, wenn nicht an allem, seien les écologistes schuld mit ihren unsinnigen Verboten und Reformen, mit denen sie ihm vor allem den Spaß am Essen verleiden wollten. Jetzt hätten sie ihm sogar bei einem offiziellen Buffet im Institut Bio-Schnittchen vorgesetzt! Mehr Verachtung hat Monsieur nur noch für Veganer übrig.

Der Kolumnist

Der Autor und Journalist Georg Etscheit lebt in München und engagiert sich seit vielen Jahren im Umwelt- und Naturschutz. (Foto: Monika Höfler)

Weil die Grünen gerade in Deutschland den Ton angeben, sind ihm die Deutschen noch suspekter als ohnehin schon. Dafür liebt Monsieur China. Nach seiner letzten Reise ins Land der vom Smog vernebelten Morgenröte ließ er sich die Fingernägel wachsen, so, wie es die chinesischen Kaiser einst gepflegt hatten.

Er schwärmte schon von zehn Zentimeter langen Krallen, les ongles de l’empereur, und erntete verständlicherweise nur Unverständnis. Zum Glück erwiesen sich die unansehnlichen Klauen im Alltagsleben als hinderlich, worauf er das Experiment abbrach.

Seine Liebe für China hat das nicht getrübt. Immer, wenn es der Füllstand seines Bankkontos erlaubt, fliegt er für zehn, vierzehn Tage nach Peking, um auf eigene Faust das Land zu erkunden. Die futuristischen Megastädte haben es ihm besonders angetan. Und die chinesischen Züge. Die durchquerten das Land mit Tempo 300, legten Tausende von Kilometern zurück und kämen trotzdem auf die Sekunde pünktlich an. Voilà! Und die Deutsche Bahn …

Als ich vor Kurzem wieder mal mit der Bahn fuhr und mehrere Züge hintereinander aus unerfindlichen Gründen ausfielen – später erfuhr ich, dass offenbar ein Zugführer nicht zum Dienst erschienen war – kam mir der ketzerische Gedanke, dass in Deutschland vielleicht deshalb immer weniger funktioniert im öffentlichen Leben, weil immer mehr Leute, die von nichts etwas verstehen, mitreden wollen. Vielleicht wäre eine klitzekleine Prise Diktatur manchmal doch nicht so schlecht?

Oder wir sollten uns ein Beispiel an den gilets jaunes nehmen und eine Woche lang einfach alle Bahnhöfe besetzen und uns auf die Gleise der schönen Schnellstrecken legen. Monsieur fände das sicher formidable.

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