Weiß gekleidete Aktivisten stehen auf einem Bahngleis und hängen ein Transparent auf:
Eine Aktion, die am 30. November in der Lausitz wirklich stattfand: Gleisblockade auf der Kohlebahn zum Kraftwerk Jänschwalde. (Foto: Ruben Neugebauer/​Flickr)

Vom Sturm auf die Pariser Bastille am 14. Juli 1789 gibt es keine Fotos, nur zeitgenössische Stiche und Gemälde. Klar, die Fotografie war noch nicht erfunden. Vom vergleichsweise unblutigen "Sturm auf das Winterpalais" im damaligen Petrograd, heute Sankt Petersburg, am 6. November 1917 gibt es dann schon Fotos, zumindest vom erstürmten Gebäude selbst.

Am Vormittag des 30. November 2019, also am vergangenen Samstag, soll es nun den Versuch einer "Erstürmung" des Braunkohle-Kraftwerks Jänschwalde bei Cottbus gegeben haben. Diese Meldung beschäftigt seitdem die Medien. 

Ein Problem dabei: Es gibt von dem "Versuch", fast zweihundert Jahre nach der Erfindung der Fotografie, keine Bilder. Dabei war die Kohorte der angeblich anrückenden Demonstranten in der Lausitz viel größer als das Dutzend Soldaten, die damals im russischen Petrograd unterwegs waren.

Nach Stand der Dinge liegt der Ausgangspunkt der Jänschwalder "Sturm"-Meldung in einem Eintrag auf dem Blog des Braunkohleunternehmens Leag vom Samstag, veröffentlicht um 9.09 Uhr: "Etwa 200 Kohlegegner versuchen gewaltsam in das Kraftwerk Jänschwalde einzudringen", stand da plötzlich im Netz.

Das ging, wie das so läuft, viral ab, wurde zum Beispiel in der Berliner Morgenpost wiedergegeben – ohne Quellenangabe. Nach einer vorläufigen Übersicht griffen an dem Tag mindestens zehn regionale und überregionale Medien den Blogeintrag in verschiedener Weise auf.

Quelle soll eine Polizeimitteilung gewesen sein

Als Quelle für den Eintrag gibt die Leag nun aber nicht eigene Beobachtungen aus dem Kraftwerk an, sondern die Polizei. "Unsere Informationen beruhen auf einer Meldung der Polizei von vor Ort, wonach es eine massive Annäherung der etwa 200 Demonstranten auf das Kraftwerksgelände gegeben hat, die nur durch starke Polizeipräsenz gestoppt werden konnte", erklärte ein Leag-Sprecher am Samstagabend gegenüber Klimareporter°.

Wer diese polizeiliche Meldung "von vor Ort" an die Leag gegeben hat, darüber kann oder will die Polizei Brandenburg bis dato nichts sagen. Die Anfragen dazu von Klimareporter° verliefen bisher im Sande. Im offiziellen Twitter-Account der Brandenburger Polizei ist am Samstag von den 200 nicht die Rede, der Sender RBB zitiert auf seinem Internetportal die Polizei zu dem Vorgang nur mit der heroischen Aussage, dass sie die Demonstranten "30 Meter vor dem Werksgelände aufgehalten" habe.

30 Meter vor dem Werkszaun! Und 200 Leute im Anmarsch! Und die Leag fragt den ganzen Tag nicht einmal "vor Ort" nach, um ihre Blognachricht zu belegen? Stand hinterm Kraftwerkszaun in Jänschwalde niemand, der mal ein Foto machen oder den man hätte anrufen können, um sich die Polizeimeldung "von vor Ort" bestätigen zu lassen? Der Sturm auf die Bastille und der auf das Winterpalais sind da besser dokumentiert.

Am heutigen Montagmorgen räumt der Pressesprecher der Brandenburger Polizei, Torsten Herbst, im Radio zumindest ein, dass von den angeblich am Kraftwerk "anstürmenden" Demonstranten keine Gewalt ausgegangen sei und die Menschen vor der Polizeilinie angehalten hätten.

Zugleich malt der Sprecher aber auch aus, wie präsent die Polizei, so mit Diensthunden und berittenen Kräften, vor Ort gewesen ist. So hält er die auch für die Leag gesichtswahrende Story am Laufen, dass nur dank der "Präsenz" der Polizei das Entern des Kraftwerks verhindert worden sei.

Eine bevorstehende Erstürmung hat niemand beobachtet

Tatsächlich aber hat es einen "anstürmenden" Block der 200 in der Form wohl nie gegeben. Für Georg Kössler, am Samstag parlamentarischen Beobachter der Grünen, ist die Erstürmungs-Nachricht eine Falschmeldung, wie er am selben Tag schon kurz nach 14 Uhr twitterte.

Die parlamentarischen Beobachter hätten "alle Finger" von Ende Gelände "durchgehend begleitet". Niemand sei ins Kraftwerk gelangt und auch die Gleisblockade habe rund 500 Meter vor dem Kraftwerk stattgefunden, stellte Kössler klar.

Auch Michaela Kruse vom BUND Brandenburg – der Umweltverband protestierte zusammen mit Fridays for Future und anderen Organisationen mit insgesamt 700 Menschen am Samstag vor dem Kraftwerk Jänschwalde – hat keinerlei Kenntnis vom Versuch einer "Erstürmung". "Unser Bündnis hat absolut gewaltfrei agiert und für einen sozialverträglichen Ausstieg gemeinsam mit den Menschen in der Lausitz demonstriert", erklärte Kruse gegenüber Klimareporter°.

Kurz vor 17 Uhr wies schließlich auch Ende-Gelände-Sprecherin Nike Mahlhaus per Twitter die Meldungen über die "Erstürmung" zurück und forderte die Leag auf, die, wie sie sagte, "Falschbehauptung" richtigzustellen.

Leag rudert spät zurück

Erst gegen 19 Uhr dann berichtigte, besser gesagt, rechtfertigte sich die Leag auf Twitter und zog sich dort auf gefühlte Eindrücke und die schon gegenüber Klimareporter° angeführte ominöse "Polizeiquelle" zurück,

Die Demonstranten hätten den "Eindruck" einer Erstürmung vermittelt, so das Unternehmen, und es habe "nach Aussage der Polizei eine massive Annäherung der Gruppe auf das Kraftwerksgelände" gegeben, "die nur durch starke Polizeipräsenz gestoppt werden konnte".

Nun ja, ein Dementi sieht anders aus. Und Schuld haben bei der Leag sowieso die Demonstranten, weil die so einen, möchte man hinzufügen, "grimmigen" Eindruck vermittelten. 

Für das Aktionsbündnis "Ende Gelände" stellt, wie es Klimareporter° mitteilte, "die Falschmeldung der Leag eine neue Stufe der versuchten Einflussnahme eines Konzerns auf die öffentliche Meinung" dar. Obwohl die Kohlelobby für ihre Einflussnahme in der Lausitz lange bekannt sei, habe man so eine offene Form der Verbreitung von Falschmeldungen "noch nicht erlebt."

Im Vorfeld habe man sich, betont "Ende Gelände" weiter, mit Diskussionsveranstaltungen und offenen Beiträgen um einen Dialog in der Region bemüht – im Sinne einer Annäherung und Deeskalation. Die Meldung der Leag habe dagegen die Stimmung wieder angeheizt.

Im Leag-Blog ist der Ursprungseintrag vom Samstagvormittag bis dato nicht gelöscht, sondern nur mit der spätabends getwitterten Rechtfertigung ergänzt worden.

Richtiger wäre es wohl, den Eintrag mit dem Zusatz "Fake-News" zu versehen. Denn um nichts anderes handelt es sich nach allem, was bisher bekannt ist.

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