Es gibt nicht wenige Begriffe, bei denen der allgemeine Sprachgebrauch und das rechtliche Verständnis stark voneinander abweichen. Besonders weitreichende Folgen hat das aber beim Begriff Entwicklungsland.

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird damit ein armes Land bezeichnet. So besteht Konsens, dass Laos, Äthiopien und Haiti Entwicklungsländer sind. Dort liegt die Wirtschaftsleistung pro Kopf bei weniger als 2.000 US-Dollar pro Jahr.

Bei den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen gelten aber auch Singapur, Südkorea und Saudi-Arabien als Entwicklungsländer, obwohl in all diesen Ländern die Wirtschaftsleistung deutlich über der von Portugal liegt, einem "Industriestaat" in der UN-Begrifflichkeit. Mit Armut hat die Bezeichnung Entwicklungsland offenbar doch nicht so viel zu tun.

Eine einfache Nord-Süd-Unterteilung erfasste im Jahr 1980 die Charakteristika der Länder noch hinreichend genau. (Bild: Jovan Gec/​Wikimedia Commons)

Wer verstehen will, wo der Begriff herkommt, muss mehr als 40 Jahre zurückgehen. 1980 veröffentlichte eine UN-Kommission den "Nord-Süd-Bericht", nach dem Leiter der Kommission und früheren Bundeskanzler Willy Brandt auch "Brandt-Report" genannt. Dieser Bericht enthält die "Brandt-Linie", die die Welt in Industriestaaten und Entwicklungsländer einteilt.

Zu ersteren gehörten sowohl die westlichen Industriestaaten von Kanada über Westeuropa bis Japan und Australien, als auch die Länder des "Ostblocks", also Osteuropa und die Sowjetunion. Alle anderen Länder galten als "Entwicklungsländer", also ganz Lateinamerika, Afrika und fast ganz Asien.

Diese Unterscheidung wurde dann von verschiedenen internationalen Organisationen übernommen und oftmals vertraglich fixiert. So hat die UN-Klimakonvention aus dem Jahr 1992 zwei Anhänge. Der erste umfasst die Länder nördlich der Brandt-Linie (plus die Türkei) und der zweite nur die westlichen Industriestaaten. Alle anderen Länder gelten wie im Brandt-Bericht als "Entwicklungsländer".

Verlierer sind die wirklich armen Länder

Dass diese rigide Zweiteilung der Welt der Vielfalt der Länder nicht mehr gerecht wird, sehen heute auch manche internationalen Organisationen so. Die Weltbank unterscheidet etwa vier Gruppen von Ländern: Länder mit hohem und mit niedrigem Einkommen und dazwischen zwei Gruppen mit mittlerem Einkommen.

Aktuelle Einteilung der Länder in vier Gruppen nach dem durchschnittlichen Einkommensniveau. (Bild: Weltbank )

Dabei sieht man: Viele "Entwicklungsländer" entwickeln sich tatsächlich. Während im Jahr 1987, zu Beginn der Datenreihe, 30 Prozent aller Länder ein niedriges Einkommen hatten, sind es heute noch zwölf Prozent. Umgekehrt ist die Gruppe der Länder mit hohem Einkommen deutlich gewachsen: von 25 auf 40 Prozent der Staaten.

Das einfache Abzählen von Ländern verdeckt aber noch den Fortschritt seit 1987, denn China und Indien hatten damals ein niedriges Einkommen. Heute ist China in der Gruppe mit "höherem mittleren" und Indien in der Gruppe mit "niedrigerem mittleren" Einkommen. Damit haben sich die Lebensbedingungen von mehr als zwei Milliarden Menschen dramatisch verbessert.

Für die internationale Diplomatie ist die dynamische Länderklassifikation der Weltbank, die jedes Jahr neu berechnet wird, aber nicht relevant. Dort gilt noch immer die strikte Zweiteilung der Welt in Industriestaaten und Entwicklungsländer entlang der Nord-Süd-Linie.

Das nützt denjenigen Entwicklungsländern, die seither wohlhabender geworden sind. Ihr Status als "Entwicklungsland" bedeutet beim Klima etwa, dass sie nicht zur finanziellen Unterstützung der wirklich armen Länder beitragen müssen.

 

Folglich sind die vehementesten Verfechter der klassischen Zweiteilung denn auch oft Länder wie Saudi-Arabien oder Kuweit, Länder mit hohem Einkommen, das nicht selten aus der Ölindustrie stammt.

Umgekehrt sind die wirklich armen Länder tendenziell die Verlierer der Zweiteilung – aus gleich zwei Gründen. Zum einen wird die Zahl der potenziellen Geberländer durch die veraltete Regelung künstlich verkleinert. Und zum anderen wehren sich die klassischen Industriestaaten gegen höhere Finanzzusagen, solange sie als einzige Unterstützung leisten müssen.

Kurz, die Brandt-Linie war gut gemeint, aber 40 Jahre später konterkariert sie ihre eigene Zielsetzung. Die Brandt-Kommission wollte schließlich einen Nord-Süd-Ausgleich erreichen und nicht die Spaltung festschreiben.