Die Zahl ist beeindruckend. Mehr als die Hälfte des globalen Bruttoinlandsprodukts hängt von der Natur ab, also von funktionierenden, stabilen Ökosystemen. Das hat das Davoser Weltwirtschaftsforum 2020 in einer Studie ermitteln lassen.
Viele Wirtschaftsbereiche sind danach zum Beispiel von guter Wasserqualität, nachhaltig genutzten Wäldern, funktionierender Bestäubung oder der Kontrolle von Krankheitserregern durch die Natur angewiesen. Werden Natursysteme zerstört, trifft das den Bausektor am stärksten, gefolgt von der Landwirtschaft und der Nahrungsmittel- und Getränkebranche.
Fachleute schätzen, dass bereits bis 2030 der Kollaps von Ökosystemen, wie der Verlust von Bestäubern im Agrarsektor oder von Fischbeständen, einen Rückgang der globalen Wirtschaftsleistung um 2,7 Billionen US-Dollar verursachen könnte. Das entspricht knapp drei Prozent.
Auch in der Wirtschaft ist das Problem erkannt worden, dass Unternehmen bei Investitionsentscheidungen mögliche Risiken für die Natur nicht in ihre betriebswirtschaftliche Kalkulation einrechnen – wie schlechtere Luftqualität durch Kohleverbrennung oder den Verlust der Bodenfruchtbarkeit durch industrielle Landwirtschaft.
Auf der UN-Biodiversitätskonferenz in Montreal hat daher die internationale Initiative "Business for Nature" Druck dafür gemacht, dass die Regierungen die ökonomischen Werte von Biodiversität und Ökosystemleitungen auf nationaler Ebene erfassen und auf allen Sektoren in Entscheidungen für eine nachhaltigere Wirtschaft einbeziehen. Das ist eines der Ziele, über die auf dem Gipfel verhandelt wird.
"Make it Mandatory" (Macht es verpflichtend) heißt der Aufruf, der von rund 330 Unternehmen aus 50 Ländern mit einem Gesamtumsatz von über 1,5 Billionen US-Dollar unterzeichnet wurde. Darunter sind große Einzelhandelsketten, Konzerne und Banken wie H&M, Heidelberg Materials, Ikea, Nestlé, Rabobank, RWE, Sony und Tata Steel.
"Auf einem toten Planeten gibt es keine Wirtschaft und keine Unternehmen", sagte die Geschäftsführerin der in der Schweiz ansässigen Vereinigung, Eva Zabey. Deshalb müssten die Regierungen auf der Konferenz ein ehrgeiziges Abkommen verabschieden, "das politische Sicherheit bietet und von den Unternehmen einen Beitrag verlangt".
Globale Finanzbranche erarbeitet Standards
Das Thema voranbringen will auch eine 2020 gegründet internationale "Taskforce zur naturbezogenen Offenlegung von Finanzdaten". Ihr gehören Vertreter von Unternehmen der Finanzindustrie und weiterer Branchen an. Unterstützt wird die Taskforce von internationalen Organisationen und Thinktanks, in der Aufbauphase waren auch Regierungen und Regierungsbehörden unter anderem aus Frankreich, Peru und Kenia dabei.
Die Taskforce arbeitet an einem global einsetzbaren Rahmenwerk für das Management der Risiken und Chancen, die sich durch die Einrechnung des "Naturkapitals" ergeben. Die Empfehlungen der Gruppe sollen bis zum Herbst kommenden Jahres vorliegen.
Auch die deutsche Bundesregierung unterstützt dieses Rechnen mit der Natur. Umweltministerin Steffi Lemke kündigte auf der Konferenz in Montreal ein Projekt an, um den Unternehmen und Investoren in Entwicklungs- und Schwellenländern das Einbeziehen der Biodiversitäts-Werte in ihren Entscheidungen zu erleichtern.
Risiken durch Umweltveränderungen würden bisher bei Investitionsentscheidungen nicht ausreichend berücksichtigt, sagte Lemke, "genauso wenig wie die Chancen eines Wirtschaftens im Einklang mit der Natur". Der Bund steckt in das Projekt, das die Arbeit der internationalen Taskforce unterstützen soll, rund 29 Millionen Euro.
Entwicklungsländer sperren sich
Fachleute betonten in Montreal, wie wichtig das Rechnen mit der Natur sei und dass es möglichst schnell eingeführt werden müsse – analog zu den Bemühungen, die Unternehmen dazu zu bringen, ihren Beitrag zu den Treibhausgas-Emissionen offenzulegen.
"Immer mehr Unternehmen und Finanzinstitute erkennen, wie wichtig Maßnahmen zum Schutz der Natur und der biologischen Vielfalt sind", sagte der Ökonom Eliot Whittington von der Universität Cambridge. Nun müssten aber die Regierungen die richtigen Regeln und Anreize schaffen, "um Marktversagen zu stoppen und den Wandel zu ermöglichen".
Der Gipfel in Montreal müsse "ein Wendepunkt in der Beziehung der Menschheit zur Natur" werden, forderte Whittington. "Und um dies zu erreichen, muss er grundlegende Veränderungen in der Art und Weise einleiten, wie die Wirtschaft funktioniert."
Appelle wie dieser fielen auf der Konferenz freilich nicht bei allen Delegationen auf fruchtbaren Boden. In den Verhandlungen zu dem Thema war sehr umstritten, wie verbindlich das Einrechnen der Natur gemacht werden solle. Die Europäische Union plädierte für verpflichtende Standards, wichtige Schwellen- und Entwicklungsländer wie Indien, Brasilien und Argentinien sperrten sich jedoch dagegen.
Lesen Sie dazu auch den Gastbeitrag von Reinhard Loske: Das Ende des harmlosen Naturschutzes