Aus dem schwarzen, schäumenden Meer faucht der riesige Leviathan eine Gottesgestalt am Himmel an. Diese Szene bildet der Holzstich "Die Vernichtung des Leviathan" des französischen Malers Gustave Doré ab.
Alle drei abrahamitischen Religionen kennen das Seeungeheuer – teils Schlange, teils Drache, teils Fisch. Im Christentum verschlingt es am Tag des Jüngsten Gerichts Sünder:innen, im Islam trägt es die gesamte bekannte Existenz auf seinem Rücken und im Judentum soll der Leviathan als Sinnbild für Gewalt und Macht am Ende der Zeit von Gott erschlagen werden.
Namensgebend ist das mythologische Ungeheuer außerdem für eines der größten Erdgasfelder des Mittelmeers – das Feld Leviathan rund 130 Kilometer westlich der israelischen Großstadt Haifa.
Benannt worden seien die Felder von Forscher:innen des Geophysikalischen Instituts Israels, heißt es aus Kreisen der israelischen Botschaft in Berlin.
Auch die Namen anderer Gasfelder Israels, wie Karish oder Tannin, stammten aus dem Hebräischen und kämen im Tanach, also in heiligen Schriften des Judentums, vor, erklärt der Ökonom Atif Kubursi im Gespräch mit Klimareporter°. Mit mythologischen Namen versuche Israel ebenso wie andere religiös geprägte Staaten, Bodenschätze als von Gott gegeben darzustellen.
"Nach dieser Erzählung ist Gott ein Makler, der dem entsprechenden Staat oder Volk Ländereien, natürliche Ressourcen und alles Mögliche zuteilt." Kubursi ist emeritierter Professor an der kanadischen McMaster-Universität und hat an zahlreichen Studien, darunter auch UN‑Berichten, über die Region mitgewirkt.
Das 2010 entdeckte Leviathan-Gasfeld zählt mit einem geschätzten Umfang von 621 Milliarden Kubikmetern Erdgas zu den größten fossilen Neufunden der 2000er Jahre. Zehn Jahre nach der Entdeckung begann Israel mit der Förderung.
Dazu kommen das einige Jahre zuvor erschlossene Tamar-Gasfeld mit weiteren 200 Milliarden Kubikmetern und noch weitere, kleinere Felder.
Die Geologiebehörde der USA schätzt die gesamten Gasvorkommen im Levantinischen Becken – dem östlichsten Teil des Mittelmeers – auf 3,5 Billionen Kubikmeter. Damit gehört die Region zu den erdgasreichsten der Welt.
Um die Zahl greifbar zu machen: Alle 27 EU-Staaten zusammen verbrauchten 2022 ein Zehntel dieser Menge.
Erdgas gewinnt trotz Klimawandel an Bedeutung
Diese Jahrmillionen alten Kohlenstoffreservoire halten sich – wenig überraschend – nicht an nationale Grenzen. Sie liegen nicht nur vor der Küste Israels, sondern auch Ägyptens, Syriens, Libanons, Zyperns und nicht zuletzt Gazas sowie in internationalen Gewässern.
Bisher ist Israel das einzige Land, das Gas und in geringerem Maße auch Öl in dem Gebiet fördert. Sowohl das Leviathan- als auch Tamar-Feld liegen innerhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszone Israels. Diese Zone erstreckt sich nach internationalem Seerecht 200 Seemeilen von der Küste ins Meer und spricht dem angrenzenden Küstenstaat exklusive Rechte zum Beispiel an den Bodenschätzen zu.
Dass die anderen Länder die Gas-Vorkommen in ihrem Gebiet nicht nutzen, führt Kubursi zum Teil auf Druck von den USA und Israel zurück. Ägypten etwa sei abhängig von Geldflüssen aus den USA.
Ein Sprecher des israelischen Ministeriums für Energie erklärt gegenüber Klimareporter°, keine Aussage zur Situation in anderen Ländern machen zu können. Er schiebt aber nach, dass der israelische Erfolg bei der Gasförderung mit transparenter und verlässlicher Energiepolitik zu tun habe, die private Investitionen anziehe.
Der Wert des gesamten Vorkommens liegt laut Schätzungen irgendwo zwischen 450 Milliarden und zwei Billionen US-Dollar, abhängig von der Gaspreisentwicklung. Deutlich an Wert gewonnen haben die Vorkommen durch den Ukraine-Krieg und die Suche Europas nach neuen Gas-Lieferländern.
In den kommenden Jahren wird Erdgas voraussichtlich weiter an Bedeutung gewinnen. Das Narrativ, Erdgas sei als Brückentechnologie unvermeidbar, hat sich über Partei- und Ländergrenzen hinweg durchgesetzt. Auch ein Sprecher der israelischen Botschaft in Berlin bezeichnet die Gasförderung als Voraussetzung für Israels Energiewende. "Durch die Förderung von Erdgas wird der Kohleausstieg dabei enorm beschleunigt."
Aus dem israelischen Energieministerium heißt es ergänzend, dass Erdgas als "leicht verfügbare und verlässliche" Ergänzung zu den Erneuerbaren auf absehbare Zukunft eine Rolle spielen werde.
Klimawissenschaftlich gibt es an dem Bild der Brückenenergie selbstredend einige Zweifel.
Erdgas als Brückentechnologie
Erdgas besteht zum größten Teil aus Methan. Dieses Treibhausgas, das bei der Förderung und dem Transport des Erdgases in großen Mengen unverbrannt in die Atmosphäre entweicht, ist um ein Vielfaches klimaschädlicher als CO2.
Laut dem Weltklimarat IPCC ist Methan in den ersten 20 Jahren etwa 87-mal schädlicher für das Klima als CO2. Bezogen auf 100 Jahre, wirkt es immer noch 36-mal stärker.
Eine 2022 in der Zeitschrift Nature Energy erschienene Studie von Wissenschaftler:innen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung stellt Erdgas deshalb eine "vergleichbar schlechte Klimabilanz aus wie Kohle".
Zwar entsteht bei der Verbrennung von Erdgas weniger CO2 als bei Kohle oder Öl, aber die Methanverluste gleichen das wieder aus. In der Vergangenheit wurden Methanlecks häufig unterschätzt und so die Klimabilanz von Erdgas schöngerechnet.
Flüssigerdgas (LNG) schneidet dabei noch schlechter ab als Pipeline-Gas. Verflüssigung, Transport mit Spezialschiffen, erneute Rückwandlung in Gas am Zielort – all das verbraucht große Mengen fossiler Energie.
Israels Stromversorgung wird gegenwärtig zu 70 Prozent von Gaskraftwerken gedeckt. Seit 2020 ist das Land dafür nicht mehr auf Importe angewiesen, und schon 2022 konnte Israel die Hälfte des geförderten Gases exportieren. Der Großteil floss in die Nachbarländer Jordanien und Ägypten.
In Ägypten wird das Gas in Flüssigerdgas (LNG) umgewandelt und nach Europa verschifft. Insgesamt gelangten 2022 auf diese Weise 4,2 Milliarden Kubikmeter Gas von Ägypten nach Europa – wobei unklar ist, welcher Anteil davon aus Israel stammt.
Das Gas zieht dabei nicht nur finanzstarke Investoren an und garantiert Israel Energieunabhängigkeit, auch der geopolitische Einfluss des Zehn-Millionen-Einwohner-Landes wächst mit den Gas-Exporten.
"Das Besondere an fossilen Energien ist: Nur wenige Länder haben sie, aber jedes Land braucht sie", meint Atif Kubursi.
Die Sonderrolle von Gaza Marine
In einem Memorandum einigte sich 2022 die EU mit Israel und Ägypten darauf, den Export von Gas nach Europa auszuweiten. Da Israel bisher keine Export-Infrastruktur hat, wie eine EU-Quelle Klimareporter° bestätigte, soll das Memorandum vor allem die Zusammenarbeit zwischen Israel und Ägypten sichern und stärken.
Auch zwischen den USA und Israel besteht eine Energie-Kooperationsvereinbarung, in der es heißt: "Die Erschließung natürlicher Ressourcen durch Israel liegt im strategischen Interesse der Vereinigten Staaten."
In den kommenden Jahren will Israel die Produktion von Erdgas erhöhen und den Export mehr als verdoppeln. Die Mineralölkonzerne New Med Energy, Chevron und Ratio Energies kündigten Ende Juni an, 500 Millionen US-Dollar in die Erweiterung des Leviathan-Gasfeldes zu investieren.
Ende Oktober letzten Jahres – also wenige Wochen nach dem Terroranschlag der islamistischen Hamas auf Israel und dem Beginn der bis heute andauernden israelischen Militäroffensive in Gaza – vergab das israelische Energieministerium bereits zwölf Lizenzen an sechs Unternehmen, um weitere Gasfelder zu erschließen. Unter den Firmen sind der italienische Energieriese Eni, die britische BP und der aserbaidschanische Ölkonzern Socar.
Energieminister Israel Katz begründete den Zeitpunkt damit, dass es gerade jetzt wichtig sei, das internationale Vertrauen in Israel als Wirtschaftsstandort zu zeigen.
Eine wachsende Abhängigkeit Europas sowie anderer Regionen von Israels Gas würde internationale Kritik an der israelischen Regierung leiser werden lassen, befürchten Beobachter:innen.
Viele europäische Länder würden die Tötung Tausender Zivilist:innen im Gazastreifen durch das israelische Militär schon heute weitestgehend ignorieren, kritisiert Kubursi. "Ich bin überzeugt, dass das auch mit Israels Rolle als einer der wichtigsten Gasexporteure der Zukunft zu tun hat."
Eine sensible Sonderrolle in der ganzen Geschichte spielt Gaza Marine – ein Gasfeld zwischen 17 und 21 Seemeilen vor der Küste Gazas. Im Oslo‑II-Abkommen ist geregelt, dass Palästina in den 20 Seemeilen vor der eigenen Küste exklusive Nutzungsrechte hat.
Tatsächlich unterschrieb die Palästinensische Autonomiebehörde bereits 1999 einen Vertrag zur Förderung der Ressourcen mit dem damaligen britischen Mineralölkonzern BG Group.
Wirtschaftliche Interessen spielen in Kriegen eine Rolle
Gaza Marine beherbergt schätzungsweise 25 bis 30 Milliarden Kubikmeter Gas, das über 15 Jahre gefördert werden könnte und damit weit mehr als den Bedarf der palästinensischen Gebiete decken würde. Laut einer Analyse des Magazins Offshore Technology würden die Einnahmen durch Lizenzgebühren und Steuern über die gesamte Förderdauer von 15 Jahren bei 2,4 Milliarden Dollar liegen.
Trotz erster Bohrungen im Jahr 2000 wurde bis heute kein Gas aus Gaza Marine gefördert. Gründe dafür waren sowohl israelische Sicherheitsbedenken als auch die Machtübernahme der Hamas 2007 und die politische Instabilität in Gaza.
2016 übernahm der Mineralölkonzern Shell die BG Group und damit auch die Anteile an Gaza Marine. Zwei Jahre später gab Shell die Anteile aufgrund der unsicheren Lage wieder an die Palästinensische Autonomiebehörde ab – zu unklaren Konditionen.
Im Juni 2023 kündigte Israel an, einer Vereinbarung zwischen der Autonomiebehörde und einem ägyptischen Konsortium unter Führung der staatlichen Gasgesellschaft Egas zur Förderung in Gaza Marine zuzustimmen.
Da diese Zustimmung stets an die Wahrung der israelischen Sicherheitsinteressen gekoppelt war, dürfte die Ankündigung seit dem 7. Oktober wieder obsolet sein.
In sozialen Medien kursieren Narrative, Israel gehe es in Gaza nicht um den Kampf gegen die Hamas, sondern um den Zugang zu den Gasvorkommen vor der Küste. Dies blende nicht nur den Terroranschlag der Hamas sowie den vielschichtigen politischen und historischen Kontext aus, es sei auch sonst wenig schlüssig, argumentiert Karen Young, leitende Forscherin am Center on Global Energy Policy der New Yorker Columbia University.
"Gaza Marine würde etwa zwei Prozent der Menge produzieren, die derzeit von Tamar und Leviathan produziert wird", so Young. "Mit anderen Worten, Gaza Marine ist nichts, wofür es sich für Israel lohnt, in den Krieg zu ziehen – vor allem, wenn man bedenkt, dass der Krieg seine viel größeren, bereits existierenden Projekte bedroht."
Auch aus der israelischen Botschaft sowie aus dem Energieministerium heißt es übereinstimmend, dass keine Gasförderung aus Gaza Marine vorgesehen sei.
Kubursi ist dennoch überzeugt, dass wirtschaftliche Interessen auch in diesem Konflikt eine Rolle spielen. Wenn die Palästinenser:innen in Gaza umgesiedelt oder vollends entrechtet seien, profitiere Israel davon wirtschaftlich, egal ob über Immobilien, fossile Rohstoffe oder den seit wenigen Monaten wieder öffentlich diskutierten Bau des sogenannten Ben-Gurion-Kanals.
Ben-Gurion-Kanal
Der bereits Mitte des 19. Jahrhunderts von britischen Offizieren vorgeschlagene Plan, das Mittelmeer, das Tote Meer und das Rote Meer mit einem Kanal zu verbinden, gewann in den 1960er Jahren in Folge der Suezkrise an Bedeutung.
Ziel des Projekts ist die Schaffung einer alternativen Handelsroute zwischen Asien, Afrika und Europa. Während die Briten im 19. Jahrhundert nicht von dem französisch gebauten Suezkanal abhängig sein wollten, suchten Israel, Frankreich und Großbritannien nach der Privatisierung des Kanals durch Ägypten nach Alternativen.
Trotz einiger weiterer Anläufe wurde das Projekt bisher nicht umgesetzt. Doch nun "inmitten des Chaos in Gaza", trete das Projekt wieder "in den öffentlichen Diskurs", wie es in einem Artikel der Online-Zeitung Times of Israel heißt.
Nach den gegenwärtigen Plänen wäre der Ben-Gurion-Kanal zwar länger als der Suezkanal, aber dafür breiter und aufgrund des weniger sandigen Untergrunds weniger wartungsintensiv. Der Kanal würde den Welthandel massiv beeinflussen.
Schon heute werden zwölf Prozent des weltweiten Handels durch den Suezkanal geschifft. Nicht nur könnte das Handelsvolumen deutlich ansteigen, es würde einen Handel zwischen zum Beispiel Indien und dem Westen unter Aussparung der chinesischen Seidenstraße und dem ägyptischen Suezkanal erlauben.
Laut dem ursprünglichen Plan des Kanals soll er etwas nördlich des Gazastreifens ins Mittelmeer münden. Die effizienteste und billigste Route würde allerdings mitten durch Gaza führen.
Vom Chacokrieg zwischen Bolivien und Paraguay in den 1930er Jahren über die Kriege in Irak und Syrien bis zum Ukrainekrieg – es wäre falsch, diese und viele weitere Konflikte allein durch wirtschaftliche Interessen und fossile Ressourcen erklären zu wollen, aber ebenso falsch, diese nicht mitzudenken.
Für Atif Kubursi müssten fossile Ressourcen gemeinschaftlich genutzt werden. Man dürfe Gas und Öl keine Flagge geben. Und angesichts der Klimakrise dürften ohnehin keine neuen Quellen erschlossen werden.
Die Ursache des Klimawandels und auch eine der Ursachen des Gaza-Krieges sei unsere Ökonomie, so Kubursi. "Haben Sie jemals einen Staat oder einen Milliardär getroffen, der gesagt hat, jetzt habe ich genug?" Und mit Blick auf die Klimakrise: "Wenn wir weiter so wirtschaften, mit der Geschwindigkeit weiterwachsen und fossile Energien fördern, werden wir den Planeten verbrennen."
Vielleicht sind am Ende mythologische Weltuntergangsmonster gar keine so unpassenden Namensgeber für die Öl- und Erdgasfelder dieser Welt.