Archivaufnahme von der vereisten Kieler Förde im Februar 1979.
Eiswinter 1978/79: Zugefrorene Kieler Förde. (Foto: Georg Gasch/​Stadtarchiv Kiel/​Wikimedia Commons)

Unwetter mit Schnee satt im Norden und Osten, Glatteis, Regen und Sturm in der Mitte, vergleichsweise milde Temperaturen im Süden – eine Wetterlage, die hierzulande wirklich Seltenheitswert hat. Meteorologen ziehen Vergleiche zum Rekordwinter 1978/79, der allerdings noch deutlich heftiger zuschlug.

Der extreme Wintereinbruch in der Nordhälfte Deutschlands ist dabei die Folge einer Störung des Polarwirbels – eines sogenannten "Polarwirbel-Split". Dabei strömt sehr kalte Luft bis nach Mitteleuropa.

Der Polarwirbel ist ein Wirbel aus Frostluft, der sich im Winter über dem kalten Nordpol in der Stratosphäre ausbildet – in zehn bis 50 Kilometern Höhe. Er wird normalerweise von kräftigen Winden, über 250 Stundenkilometer schnell, umschlossen. Sie wirken wie eine feste Grenze, lassen die polare Luft normalerweise nicht entweichen.

Allerdings kann es geschehen, dass warme Luft in den Polarwirbel eindringt und ihn dann sogar teilt – so geschehen in diesem Winter. Zugleich kehrten sich die Strömungsverhältnisse um, vom Westwind verwandelte er sich in einen Ostwind.

Ursache für einen "Polarwirbel-Split" ist ein plötzlicher Temperaturanstieg in der Atmosphäre über dem Nordpol. Tatsächlich kam es Anfang Januar zu einer starken Erwärmung rund um das Polargebiet.

"Die Temperatur in etwa 30 Kilometern Höhe ist in kurzer Zeit von minus 80 Grad auf minus 40 Grad angestiegen und dann auf diesem Niveau verblieben", erläutert Meteorologin Verena Leyendecker vom Bonner Unternehmen Wetter Online.

Diese Entwicklung wird nach dem Berliner Meteorologen Richard Scherhag auch "Berliner Phänomen" genannt. Die Folge: Der Temperaturgegensatz zwischen der Arktis und den weiter südlich liegenden Regionen verringerte sich, der "Motor" des Polarwirbels erstarb.

In der Folge wurde auch das für das Wetter in Mitteleuropa wichtige Starkwindband instabil, der sogenannte Jetstream. Er "schlingerte", wodurch kalte Polarluft in den letzten Wochen ungewöhnlich weit nach Süden vordringen konnte, Spanien zum Beispiel bekam dadurch ungewohnte Schneemengen ab.

"Berliner Phänomen" künftig häufiger?

Die genaue Ursache für die plötzliche Erwärmung beim Berliner Phänomen, das Scherhag 1952 entdeckte und das bis zu 50 Grad Temperaturdifferenz ausmachen kann, ist nicht klar. Die Klima-Anomalie La Niña könnte daran beteiligt sein.

Klimaforscher sehen allerdings Anzeichen, dass das Phänomen aufgrund der Erderwärmung häufiger auftritt. Ein wahrscheinlicher Grund ist das Schwinden des arktischen Meereises und die zunehmende Erwärmung des Nordatlantik. Klimamodelle zeigen, dass der damit verbundene Wärmeeinstrom in die Atmosphäre die plötzliche Temperaturerhöhung in der Stratosphäre fördert.

"Wir fanden heraus, dass es bei diesem Polarwirbel in der Stratosphäre einen Wandel zu länger anhaltenden Schwächezuständen gibt", erläuterte die Expertin Marlene Kretschmer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, die 2017 eine Studie zu dem Thema leitete.  

Konkret: Schmilzt das Meereis nördlich von Skandinavien und Russland, gibt der dann offene Ozean mehr Wärme in die Luft ab. Das wiederum beeinflusst die Stratosphäre und bringt dadurch die Polarwinde durcheinander.

Die Folge ist, dass es trotz Erderwärmung in Europa oder Nordamerika zu heftigen Wintereinbrüchen kommen kann. Kretschmers Fazit: "Tatsächlich erklärt dies die meisten beobachteten Kälteextreme in den eurasischen Wintern seit 1990."

Die Ursache für die aktuelle Zweiteilung des Wetters über Deutschland ist, dass Nord und Süd sich unter dem Einfluss verschiedener Systeme befinden.

Vom Nordmeer bis ins östliche Mitteleuropa herrscht hoher Luftdruck, wodurch die sehr kalte Luft aus der Polarregion direkt in den Norden des Landes fließen konnte. Der Süden hingegen wurde beeinflusst durch Tiefdruckgebiet "Tristan", das feucht-milde Luft heranströmen ließ.

Normalerweise sind die Tiefs nicht etwa in Mitteleuropa, sondern auf nördlicheren Bahnen unterwegs – auf der Höhe von Island und Nordskandinavien. Aktuell aber verändert das Zusammenbrechen des Polarwirbels die Zugbahnen.

Weiterer Extremwinter unwahrscheinlich

Ein Vergleich mit ähnlichen Konstellationen in früheren Jahrzehnten liegt da nicht fern, etwa mit dem "Jahrhundertwinter" 1978/79. Damals setzten kurz vor dem Jahreswechsel extremer Schneefall und Stürme ein, vor allem im Norden, dann auch im Osten Deutschlands.

Die Temperaturen sanken so weit ab, dass die Ostsee zufror und der Schiffsverkehr in zahlreichen Häfen zum Erliegen kam. Viele Orte waren tagelang von der Außenwelt abgeschnitten, häufig fiel der Strom aus, teils wurden eingeschlossene Menschen per Hubschrauber aus der Luft versorgt.

Im Februar 1979 kam es dann zu weiteren starken Schneefällen, in mehreren Landesteilen musste erneut Katastrophenalarm ausgerufen werden. Selbst im normalerweise milden Frankfurt am Main lag in diesem Winter an 48 Tagen eine Schneedecke, und die tiefste Temperatur erreichte minus 17 Grad.

Trotz der aktuellen Unwetter und des Kältehochs "Gisela", das in der neuen Woche laut dem Deutschen Wetterdienst die Wetterregie mit Dauerfrost außer im äußersten Süden übernimmt, ist es jedoch unwahrscheinlich, dass der Winter 2020/21 am Ende an solche Extreme heranreichen wird.

Der Dezember mit seinem typischen Schmuddelwetter war, gemessen am Mittelwert aus der international gültigen Referenzperiode 1961 bis 1990, rund 2,3 Grad zu warm. Und auch der Januar lag etwa ein Grad darüber.

Um an den Winter 1978/79 heranzureichen, der mehr als drei Grad zu kalt war, müsste der Februar die Wärme von Dezember und Januar nicht nur ausgleichen, sondern bundesweit wirklich sibirisch werden. 

Interview mit Klimaforscher Mojib Latif:

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