Schematische Darstellung des Energieüberschusses, den die Erde jährlich aufnimmt, sowie seiner Verteilung in Wasser, Land und Luft.
Der Energieüberschuss, den die Erde jährlich aufnimmt, ist 20-mal so groß wie der globale Energieverbrauch. 90 Prozent davon schlucken die Ozeane, den Rest Landflächen, Eismassen und Atmosphäre. (Grafik: Earth System Science Data/​Copernicus Publications)

Wenn Eis schmilzt, nimmt es Wärme aus der Umgebung auf und kühlt diese ab. Was für die Eiswürfel im Shaker gilt, müsste eigentlich auch für die großen Eismassen der Erde zutreffen.

So verlor der zweitgrößte Eisschild der Welt, das grönländische Inlandeis, seit 2010 jährlich rund 290 Milliarden Tonnen Eis, im bisher schlimmsten Schmelzjahr 2019 waren es sogar 600 Milliarden Tonnen.

Theoretisch müsste dieser Prozess Grönland und seine Umgebung kühlen. Für die Eisinsel haben das Wissenschaftler, soweit bekannt, noch nicht berechnet, aber für größere Eisberge der Antarktis, die in nördlichere Gefilde driften.

Wie stark dieser Eisbergeffekt ist, versuchten Forscher der Universität von Hawaii bereits in einer Studie herauszufinden. Im Unterschied zum Schmelzwasser, das bei der Gletscherschmelze direkt ins Meer fließt, können Eisberge unter Umständen die Meeresoberfläche tatsächlich kühlen – sofern sie in wärmere Meeresregionen gelangen. Dann erfordert der Übergang zum flüssigen Zustand Wärmeenergie, die das Eis dem umgebenden Wasser entzieht.

"Diese Oberflächenkühlung ist in den Regionen am stärksten, in denen sich das Abtauen der Eisberge konzentriert", berichteten die Forscher. Entlang der Hauptwege, auf denen die Eisberge nordwärts driften, kann der lokale Kühleffekt sogar bis zu sechs Grad erreichen. Am stärksten der Fall ist dies den Modellen zufolge in der Scotiasee zwischen Feuerland und der Westantarktischen Halbinsel sowie im nördlichen Rossmeer südlich von Neuseeland.

Umfassende Studie zur Wärmeaufnahme der Erde

Global gesehen spielt der Schmelzeffekt der Eismassen bei der Klimaerwärmung aber kaum eine Rolle. Das legt jedenfalls eine in diesem Monat von Forschern der Universität Graz mitveröffentlichte internationale Studie nahe. Denn nur etwa drei Prozent der gesamten zusätzlichen Energie, die die Erde von 2010 bis 2018 dank des immer stärkeren Treibhauseffekts von der Sonne "einfing", wurden bisher dazu "verwendet", das weltweite Eis abzuschmelzen.

Auch wenn das Schmelzen vorerst weitergehen wird und es, salopp gesprochen, noch zu keinem "Eismangel" kommt, wird sich diese "Rückkopplung" auf die globale Erwärmung im klimapolitisch entscheidenden 21. Jahrhundert nur gering auswirken, wie Studienleiter Gottfried Kirchengast von der Uni Graz gegenüber Klimareporter° erläutert. Für die Frage, wohin die Zusatz-Energie geht, sei es langfristig wichtiger, ob ein langsames "Hinuntermischen" der Wärme in die tiefen Ozeanschichten stattfinde.

Bereits in den letzten 50 Jahren wurden laut der neuen Studie fast 90 Prozent der überschüssigen Wärmeenergie von den Weltmeeren absorbiert. Sechs Prozent "schluckten" die Landmassen und nur ein Prozent ging in die Erdatmosphäre, dort allerdings mit den gravierendsten Hitze-Folgen.

Zwar muss die Lufthülle, vor allem dank der Pufferspeicherung in den Wassermassen der Meere, absolut gesehen nur die kleinste Wärmemenge aufnehmen, dennoch sind die relativen Änderungen hier am stärksten und die Auswirkungen auf uns Menschen am direktesten, etwa über Wetter- und Klimaextreme – so schildert Kirchengast das Paradoxon.

Besondere Sorgen bereiten ihm dabei Hinweise aus der Forschung, dass sich der Anteil der Atmosphäre an der Wärmeaufnahme seit den 1990er Jahren "unerwartet stark erhöht", ohne dass die Gründe dafür schon verstanden würden. "In der Atmosphäre war die Wärmezunahme in der Zeit von 2001 bis 2018 dreimal so stark wie der im letzten Weltklimabericht publizierte Anstieg von 1971 bis 2010", so Kirchengast.

Ergebnisse fließen in neuen IPCC-Bericht ein

Die breit angelegte internationale Studie über die Wärmeaufnahme der verschiedenen Elemente des Erdsystems erschien kürzlich im Journal Earth System Science Data. Darin wird erstmals umfassend berechnet, wie stark sich seit den 1970er-Jahren die überschüssige Wärmeenergie jeweils in den Meeren, den Landmassen und der Lufthülle der Erde ansammelt.

Physikalisch bewirkt die Zunahme der Treibhausgase in der Atmosphäre demnach auf der Erde ein Energie-Ungleichgewicht zwischen der eintreffenden Sonnenstrahlung und der Rückstrahlung von der Erde, die durch die Treibhausgase behindert wird.

Im Schnitt muss der Planet mittlerweile in jeder Sekunde pro Quadratmeter rund 0,9 Joule Energie zusätzlich schlucken, fasst Kirchengast das Ergebnis zusammen. "Da die Erdoberfläche 510 Millionen Quadratkilometer groß ist, sind das jedes Jahr rund 14 Billionen Gigajoule Überschuss, mehr als das Zwanzigfache des Weltenergieverbrauchs."

Um das Gleichgewicht wiederherzustellen, muss die "Überschussenergie" nach den Erkenntnissen der Forscher von 0,9 Joule auf null reduziert werden. Die Ergebnisse deuten dabei darauf hin, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre vom heutigen Wert von 410 ppm wieder auf etwa 350 ppm reduziert werden muss.

Für den renommierten Klimaforscher Hartmut Graßl stellen die gefundenen Resultate einen weiteren Fortschritt in der verfeinerten Messung der Erwärmung der Klimasystemkomponenten Ozean, Landoberfläche und Atmosphäre dar. Wie Graßl gegenüber Klimareporter° erläutert, werden die Ergebnisse der Studie maßgeblich in den Weltklimabericht 2021 einfließen.

Die Studie entstand im Rahmen des "Global Climate Observing System"-Programms (GCOS) der Vereinten Nationen. Während seiner Tätigkeit bei der Weltmeteorologieorganisation WMO von 1994 bis 1999 hatte Graßl nach eigenen Angaben die Schaffung des GCOS mitinitiiert.

Redaktioneller Hinweis: Hartmut Graßl ist Mitglied des Herausgeberrates von Klimareporter°.

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