Violettstirn-Brillantkolibri
Der Violettstirn-Brillantkolibri lebt in den tropischen Anden, bisher zwischen 500 und 2.250 Metern Höhe. (Foto: Alex Wiebe)

Im Sommer 2017 stand Benjamin Freeman auf dem Gipfel eines Andenausläufers in Peru und ließ seinen Blick über die weite Landschaft ringsum schweifen. Endlose Wälder, Berge und Flüsse. Der Berg unter ihm war fast unberührt und lag abgeschieden im Südosten des Landes. Und trotzdem hatte sich hier in den vergangenen drei Jahrzehnten etwas Grundsätzliches verschoben.

Die Rede ist von den Tropenvögeln, die die Hänge der Cordillera del Pantiacolla bewohnen. Sie haben sich in Bewegung gesetzt und sind den Berg hinaufgewandert – wie auf einer Rolltreppe. Und zwar im Schnitt um 68 Meter hinauf. "Wie konnte es hier nur zu solch krassen Veränderungen in gerade mal 30 Jahren kommen?", fragte sich der Evolutionsökologe von der Universität von British Columbia in Vancouver.

Freeman versucht seither, diese Frage zu beantworten und die Mechanismen hinter dem Phänomen herauszufinden. Vor allem: Wer kann sich behaupten und wer nicht, wer sind die Gewinner und wer die Verlierer?

Von der Antwort hängt einiges ab, denn nirgendwo auf der Welt konzentrieren sich so viele Arten wie in den Bergen der Tropen. Sie haben sich in schmalen Nischen mit stabilen Temperaturen eingerichtet und reagieren äußerst sensibel, wenn das Klima schwankt. Eine unheilvolle Kombination in Zeiten einer massiven Erderwärmung, wie sie derzeit stattfindet.

Tropenberge wie der Pantiacolla stellen deshalb einen idealen Experimentierraum dar. Dort lässt sich die Zukunft der Artenvielfalt auf der Erde studieren.

Wer den Berg bereisen will, muss in einem Bus sieben Stunden von Cusco aus die Serpentinen der Anden hinunterkurven und in einen Holzkahn umsteigen, um den Rio Alto Madre de Dios und den Rio Pantiacolla stromaufwärts zu fahren, bis die grüne Hügelkette im Nebel auftaucht.

Am Fuße des Bergs stehen heute Bananenpalmen und eine verlassene Ökolounge. Nur Mitglieder der lokalen Palatoa-Gemeinschaft schauen hier ab und zu vorbei. Zwei Jugendliche der Indigenen-Gruppe schlagen mit ihren Macheten den Weg nach oben frei. Alex Wiebe, ein ehemaliger Student von Freeman, will die Wanderung der Vögel in Richtung Gipfel überprüfen.

Den Tropenwald erfüllt eine wabernde akustische Wolke von Vogellauten. Darunter ein schwermütiges "Tüt-tüüüüt" und ein Glucksen, als würde ein Stein ins Wasser fallen – der Ruf der Rotrücken-Oropendel. Unter dornenbespickten Bambusrohren hindurch geht es hinein ins Unterholz und nach wenigen Minuten einen steilen Pfad hinauf.

Ein Baum fächert seinen Stamm am Boden zu einem mächtigen Dreieck aus, andere tragen ihre Wurzeln zwei Meter frei über dem Boden. Und immer wieder hängen Klumpen in den Ästen: Termitennester. "Hier hausen Trogone", sagt Wiebe und zeigt auf ein paar farbenprächtige Vögel im Geäst.

Die Vögel am Fuße der Cordillera del Pantiacolla gehören allesamt zu den Gewinnern des Klimawandels. Sie kommen derzeit noch mit den veränderten Klimabedingungen zurecht, können sich aber zusätzlich in höhere Lagen ausbreiten, da sich die Luft dort erwärmt hat. Wie der Schuppenmantel-Ameisenwächter, ein unscheinbarer Vogel, der nicht besonders gut fliegen kann und hüpfend auf die Jagd nach Wanderameisen, Spinnen und Schlangen geht.

"Er ist viel weiter oben, als er sein sollte"

Anders sieht es mit den Vögeln in höheren Lagen aus. Sie werden von den von unten kommenden Konkurrenten nach oben gedrückt, wo wiederum Arten warten, die um ihr Revier kämpfen. Ein Phänomen, das im Falle der Vegetation ganz ähnlich auch in den Alpen zu beobachten ist.

"Das ganze Areal verschiebt sich wie ein Block nach oben", sagt der Botaniker Stefan Dullinger von der Universität Wien. Die meisten Pflanzenarten konnten sich dabei sogar ausbreiten. Nur ein paar Gipfelbewohner wie das Quirlblättrige Läusekraut fanden sich in einem schmaleren Streifen wieder.

In den Tropen dürfte diese Entwicklung allerdings weitaus stärker und folgenreicher sein, vermuten Biologen. Die Arten reagieren dort sensibler als Arten hierzulande, wenn die Temperaturen schwanken, da sie sich in ihren Nischen auf ganz bestimmte Temperaturen spezialisiert haben. "Die Arten in den gemäßigten Breiten dagegen sind häufiger Generalisten", sagt Freeman. "Sie müssen zum Beispiel Winter durchstehen."

Aber noch etwas macht die Arten am Äquator besonders anfällig: Sie können sich nicht wie ihre Pendants in den gemäßigten Breiten die Jahreszeiten zunutze machen, indem sie ihren Rhythmus im Jahr neu austarieren – wie Vögel, die früher nisten, oder Blumen, die früher blühen. "In den Tropen ist das keine Option, da alle Monate in etwa dieselbe Temperatur haben", sagt Freeman.

Wenn die Arten sich nicht zeitlich verschieben können, um auf den Klimawandel zu reagieren, dann müssen sie sich räumlich verschieben. Auf den Tropenbergen ist das besonders gut zu beobachten: Die Arten wandern immer weiter hinauf, bis am Gipfel Schluss ist – und die ersten verschwinden. Von einer "Rolltreppe ins Aussterben" sprechen die Biologen.

Auf 770 Metern bauen wir unsere Zelte auf. Über Nacht beginnt es im Wald zu tröpfeln. Im Morgengrauen leuchtet Wiebe mit seiner Stirnlampe den Bergpfad hinauf. Moose, Flechten und Farne überziehen nun jeden Stein und sämtliches Holz, das sich ihnen bietet. Selbst zwischen den Lianen spannen sich Moosmatten.

Die Vogelgemeinschaft ist nun eine ganz andere als am Fuß des Bergs. Nach ein paar hundert Metern bleibt Wiebe stehen und lauscht einem Ruf im Nebelwald, der langsam anschwillt: "Ruuuu-duu-du-du-du-du!"

"Der Schuppenkopf-Ameisenpitta!", sagt Wiebe. "Er ist viel weiter oben, als er sein sollte." Mit seinen Händen formt er einen Trichter und hält sie an den Mund, um den Ruf des Vögelchens mit dem rötlichen Bäuchlein, dem Stummelschwanz und den Stelzbeinen zu imitieren. Genauso tönt es zurück, ein wenig unterhalb von ihm – und noch einmal aus der Ferne.

Der Biologiestudent rekapituliert, welche Habitat-Ausdehnung Freeman 2017 und vor ihm sein Institutsleiter John Fitzpatrick im Jahr 1985 festgestellt hatten: 700 bis 800 Höhenmeter im Jahr 1985. Und 870 bis 990 Höhenmeter im Jahr 2017.

Er zieht sein Telefon aus seiner Hosentasche, öffnet die "E-Bird"-App und bestimmt per GPS seine Höhe: 1.170 Meter. "Das ist ein ziemlicher Unterschied."

Noch ist der Mechanismus hinter dem Aufstieg der Vögel nicht vollständig entschlüsselt. Seit vielen Jahren herrscht darüber ein Streit in der Ökologie. In seiner "Entstehung der Arten" schreibt Darwin im Jahr 1859, dass die Arten an den kälteren Rändern ihrer Ausbreitung vor allem durchs Klima begrenzt werden.

An den wärmeren Rändern dagegen setzt hauptsächlich der Wettbewerb mit anderen Arten die Grenze. Denn dort – also in tieferen Lagen oder tieferen Breiten – sei die Artenvielfalt einfach höher und damit auch die Konkurrenz, meint Darwin. Mit anderen Worten: Diese Arten seien bessere Wettbewerber als die Arten weiter oben oder in höheren Breiten.

Die Gegenposition nahm ein deutscher Biologe namens Carl Bergmann ein. Schon 1847 hielt er fest, dass Populationen und Arten mit größerer Körpergröße in kühlerer Umgebung zu finden seien, während man Populationen und Arten mit kleinerer Körpergröße in wärmerer Umgebung antreffe. Das heißt: Die Arten in höheren Lagen und Breiten seien die besseren Wettbewerber – nicht die Arten in tieferen Lagen und Breiten.

Benjamin Freeman wollte nun herausfinden, wer in dem alten Streit recht hatte: Würden die Tiere und Pflanzen im Tal ihre Konkurrenten nach oben drängen und ihren Aufstieg beschleunigen? Oder könnten die Hochlandarten ihren Platz zumindest für die erste Zeit verteidigen und als "Könige der Berge", wie es die Fachwelt nennt, bestehen?

Im Gegensatz zu den alten Legenden seines Fachs hatte Freeman einen großen Vorteil: Er konnte die klassischen Theorien fast in Echtzeit überprüfen – und zwar dank eines "ungeplanten, globalen Experiments", wie er es selbst nennt: des Klimawandels.

Die Auswertung zahlreicher Datenreihen für Tausende Arten in ganz Amerika ergab: Die Mehrheit der Tieflandarten expandierte tatsächlich in höhere Lagen. "Sie konnten sich trotz gestiegener Temperaturen in niedrigen Höhen halten und gleichzeitig ihre Kältegrenzen bergwärts verschieben", schreibt Freeman in einer Studie im Fachjournal Global Ecology and Biogeography aus dem Jahr 2018.

Aber waren die Arten in tieferen Lagen tatsächlich auch die besseren Wettbewerber? Im Falle der tropischen Singvögel konnte Freeman das vor allem durch Felduntersuchungen an der Cordillera del Pantiacolla sowie in Neuguinea bestätigen. "Sie ziehen einen Vorteil aus den steigenden Temperaturen, um sich langsam nach oben zu bewegen", sagt Freeman. "Und das trägt wiederum dazu bei, die Hochlandarten höher hinauf zu drücken." In dem Fall hatte also Darwin recht.

"Es geschieht vor unseren Augen"

In der Nähe des Gebirgskamms auf 1.370 Höhenmetern lockert der Raum zwischen den Bäumen auf und das Weiß des Himmels tritt hervor. Der Regen macht den Pfad zur Rutschpartie, es riecht feucht und erdig. Am Grat ist Wiebe nass von Regen, Schweiß und Luftfeuchtigkeit.

Durch die Äste ist der ebenfalls bewaldete Kamm des Nachbargipfels, des Teparo Punta, zu sehen. Ihn hat Wiebe im Vorjahr bestiegen und festgestellt, dass die Vogelwelt dort eine andere war. Es fanden sich zwar auch Vögel, die auf beiden Gebirgszügen vorkamen, aber nicht immer auf derselben Höhe. Das erklärt Wiebe mit der unterschiedlichen Geologie. Es lässt sich also nicht alles über einen Kamm scheren.

Nach einer Pause geht es weiter den Grat entlang – bis Wiebe stehen bleibt und lauscht. "Noch ein Ameisenpitta!" Hinab in eine V-förmige Senke. Sandsedimente zeugen von einem Fluss, der hier einst floss. Den Gegenhang hinauf weist eine Schneise aus Ast- und Blätterresten den Weg. Aber als die mit Steinen durchsetzte, glitschige Rampe fast erklommen ist, endet der Pfad.

Wiebe blickt sich um, schlägt sich durchs nasse Dickicht bis auf die Anhöhe hinauf – aber auch dort ist alles verwachsen. Gerade mal ein paar Dutzend Höhenmeter trennen ihn noch vom Gipfel, aber der bleibt zumindest während dieser Expedition unerreichbar.

Und so kann der Student nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass die acht Arten tatsächlich nicht mehr hier existieren, die einst am Gipfel gelebt haben, aber 2017 von Benjamin Freeman nicht mehr gefunden wurden. Arten wie der Kammtrogon und der Hochlandmotmot, der Südliche Tropfenameisenwürger und der Rotstirn-Tyrann.

Was dort oben am höchsten Punkt genau geschieht, ist unklar. Stimmen die Bedingungen nicht mehr, zerstreuen sich die Vögel womöglich, spekuliert Wiebe. Und zwar den Gebirgskamm entlang, vielleicht sogar bis zu den Anden, zu denen es eine Verbindung gibt.

Es kann aber auch sein, dass die Vögel einfach nicht genug zum Fressen finden, ihre Jungtiere nicht mehr ernähren können und keine Eier mehr legen, bis sie irgendwann schließlich selbst sterben.

Zwei Jahre zuvor hatte Benjamin Freeman dort oben gestanden und über die wilde und ursprüngliche Landschaft geblickt. "Es erschien mir unwirklich, was ich während des Aufstiegs gesehen hatte", erzählt er.

Was er meint, ist, dass in seiner eigenen Lebenszeit Arten verschwunden sind, die bis vor wenigen Jahrzehnten hier ganz gewöhnlich waren. Und zwar wegen des Klimawandels. "Es ist keine Vorhersage mehr, es passiert gerade jetzt."

Der Beitrag wurde in Zusammenarbeit mit dem Pulitzer Center ermöglicht.

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