Klimapolitisch profitiert Deutschland von einer zufälligen Ausnahmesituation: Auf einen milden Winter und starke Winterstürme, die Windstromrekorde erzeugten, folgt eine Corona-Krise, deren Dauer bis dato nicht abzuschätzen ist.
In einem entsprechend breiten Spektrum bewegt sich eine heute vorgelegte Prognose der Berliner Denkfabrik Agora Energiewende: Verglichen mit 2019 könnten die CO2-Emissionen in diesem Jahr um 50 Millionen bis 120 Millionen Tonnen sinken. Das bedeutet eine CO2-Minderung um 40 bis 45 Prozent gegenüber 1990.
Der Thinktank nimmt dabei an, dass die 50 Millionen Tonnen auf jeden Fall erreicht werden – und damit auch das 40-Prozent-Ziel. Allerdings wäre dies ohne die Wirkungen der Corona-Krise nicht möglich. Der warme Winter, die starke Windstromerzeugung und die derzeit niedrigen Gaspreise würden laut der Analyse im laufenden Jahr nur etwa 20 Millionen Tonnen CO2 einsparen, was einem Minus von 37 Prozent entspräche.
Seit dem Jahresanfang setzt sich dabei laut Agora Energiewende der Trend im Stromsektor fort, dass die Kohleverstromung zurückgeht. Diese litt unter den Winterstürmen, die im Januar und Februar für 17 Prozent mehr Windstrom sorgten. Hinzu kamen niedrige Gaspreise und vergleichsweise hohe Preise im Emissionshandel von 20 und 25 Euro je Tonne. Aus all den Gründen lieferten die deutschen Kohlekraftwerke ein Drittel weniger Strom als im Vorjahr, besonders betroffen davon die Braunkohle, schreibt der Thinktank.
Die sinkenden Emissionen sind jedoch für Agora-Direktor Patrick Graichen "per se keine gute Nachricht für den Klimaschutz". Zum einen würden die Emissionen nach der Krise wieder hochschnellen, zum anderen dürfte es nun zu einer "Zurückhaltung bei klimaschutzrelevanten Investitionen kommen", etwa bei den erneuerbaren Energien, der Gebäudesanierung oder in der Industrie, befürchtet Graichen.
Wenn die Politik nun Konjunkturpakete schnüre, müssten diese auch helfen, Deutschland langfristig klimasicher aufzustellen, verlangt Graichen. Ein Wachstumspaket, das "blind alte Technologien förderte, wäre hier sogar schädlich, weil es höhere Emissionen auf Dauer zementieren würde", warnt er.
"Seriöse Aussagen sind nicht möglich"
Für Felix Christian Matthes, Energieexperte beim Öko-Institut, sind heutige Prognosen über die Klimabilanz des gesamten Jahres eher spekulativ. "Ich halte es weder für geboten noch auch nur in Ansätzen für seriös machbar, hier sinnvolle Aussagen zu treffen", erklärt Matthes gegenüber Klimareporter°.
Derzeit könne man über die Dauer und Tiefe der Wirtschaftskrise noch nichts sagen. Auch das Wind- und Sonnenangebot für die verbleibenden neuneinhalb Monate des Jahres sei noch nicht abschätzbar.
Matthes weist auch darauf hin, dass sich noch nichts über die Entwicklung sagen lässt, wenn die Corona-Krise im Wesentlichen überstanden sein wird – ob es grundlegende Veränderungen hin zu einer grünen, nachhaltigen Wirtschaft oder eine bloße Wiederaufnahme bisheriger Lebens- und Verhaltensmuster in Arbeit, Urlaub und anderem gibt.
Zudem seien auch gegenläufige Klima-Trends festzustellen, etwa ein steigender Energieverbrauch der privaten Haushalte sowie ein massiver Rückgang des CO2-Preises. In der Tendenz würden die CO2-Emissionen im Jahresverlauf sicherlich weiter sinken, "jegliche Spekulation über Prozentpunkte verbietet sich aber", betont Matthes.
Darüber wird seiner Ansicht nach auch weniger die jetzige Krise, sondern vor allem die Art und Weise der Krisenpolitik entscheiden. So sei eine Abschwächung schon beschlossener Klimamaßnahmen wie beim Brennstoffemissionshandelsgesetz "kontraproduktiv".
"Wirtschaftsförderung konsequent auf Klimaschutz ausrichten"
Ähnlich zurückhaltend bewertet die Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Agora-Prognose. Es sei zu früh, die Emissionsentwicklung in diesem Jahr genau abschätzen zu können, sagt Kemfert gegenüber Klimareporter°.
Auf keinen Fall dürfe die Aussicht auf eine deutlich bessere CO2-Bilanz "trügerisch zu der Annahme verleiten, dass Klimaschutzpolitik nicht mehr notwendig ist", warnt die Expertin.
Im Gegenteil – es komme bei den jetzt angekündigten Finanzhilfen und beim Aufbau nach der Krise darauf an, die Wirtschaft konsequent auf Nachhaltigkeit auszurichten, um die kommenden Klimaziele zu erreichen, sagt Kemfert. "Es sollten jetzt alle Maßnahmen zur Konjunkturstützung auf klimaschonendes Wirtschaften ausgerichtet werden, um mögliche zukünftige Reboundeffekte zu vermeiden."
Vor allem in klimagerechte Energieversorgung und Mobilität oder auch in Digitalisierung sollten nach Ansicht von Kemfert jetzt umfassende Investitionen fließen. Die Ökonomin nennt hier Schieneninfrastruktur, Smart Grids und Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge, aber auch klimaschonende Treibstoffe für den Flug-, Schiffs- und Schwerlastverkehr sowie emissionsfreie Technologien für die klassische Industrie.
Redaktioneller Hinweis: Claudia Kemfert gehört dem Herausgeberrat von Klimareporter° an.