Straßenkreuzung – links nur Autos, rechts Fußgängerinnen, Radfahrer und ein Carsharing-Auto.
Die neue Verkehrswelt sieht ganz anders aus als die alte – oder doch nicht? (Grafik: Kristin Rabaschus)

"Leere Straßen, leere Bahnen, leere Busse – so was kannten wir nicht." Das sagte Christian Hochfeld, Chef von Agora Verkehrswende, kürzlich in eine Kamera, als er auf den Lockdown im Frühjahr zurückblickte. Anlass war eine Online-Debatte über die neueste Studie des Thinktanks zu einer Mobilitätswende in der Stadt.

Auch wenn ein neuer Lockdown möglich scheint – die große Leere droht nicht mehr. Denn inzwischen haben die Menschen, zeigt die Studie, ihr Mobilitätsverhalten umgestellt. Als Gewinner der Krise zeigt sich der Individualverkehr, und zwar gleichermaßen zu Fuß, mit dem Rad – mit der Einschränkung "in den Städten" – und mit dem Auto.

Kurvendiagramm: Mit Beginn der Corona-Maßnahmen reduzierte sich der Verkehr schnell auf etwa ein Drittel.
Der Corona-Shutdown reduzierte die täglich zurückgelegten Kilometer drastisch – für einige Wochen. (Grafik: aus der Studie)

Im Lockdown brach die Entfernung, die jede Person täglich zurücklegt, auf ein Drittel ein. Aber schon im Mai und im Juni erreichte der sogenannte "Wegezweck Einkauf" wieder das Entfernungsniveau von vor der Corona-Krise. In der Krisenzeit sank zugleich die ohnehin geringe Auslastung der Pkw noch weiter, ergab die Studie.

Klarer Krisen-Verlierer ist der öffentliche Verkehr. Von einer Änderung der verkehrlichen Verhältnisse kann auch Anke Borcherding vom Verkehrswendebüro des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) hier nichts erkennen.

"Wer in den Städten oder im Speckgürtel beispielsweise von Berlin unterwegs ist, sitzt in der Regel in Sardinenbüchsen wie auch schon vor Corona: überfüllte U-, S- und Regionalbahnen. Die innerstädtischen Radwege sind zu den Stoßzeiten komplett zu eng. Der Autoverkehr hat offenbar das Vor-Corona-Niveau erreicht. Alles leider wie immer", konstatiert die Expertin gegenüber Klimareporter°.

War's das schon mit dem Traum von der Mobilitätswende, fragte seinerseits Christian Hochfeld und beschrieb die vertrackte Lage: Die einen sagten nun, wir steigen jetzt wieder ins sichere, jedenfalls vor Viren sichere Auto, die anderen sagten, wir müssen uns jetzt erst recht für eine Mobilitätswende einsetzen.

Balkendiagramm: Wege zur Arbeit oder Ausbildung gingen im Corona-Shutdown stark zurück, Wege zum Einkauf gar nicht.
Während des Shutdowns (türkis) wurden bestimmte Wege gegenüber dem üblichen Niveau (blau) stark eingeschränkt, andere nur wenig oder gar nicht. (Grafik: aus der Studie)

Auch wenn Hochfeld die zweite Antwort wählt und die Verkehrswende hochhält: Der Weg, um von einer autogerechten zu einer menschengerechten, lebenswerten Stadt zu kommen, ist offenbar noch schwieriger geworden, als er es ohnehin war. Wer will jetzt zum Beispiel ernsthaft Maßnahmen ergreifen, um den Autoverkehr einzuschränken?

"Zu zaghaft"

Dass BMW wegen Corona auch mehr Autos verkauft, wollte Thomas Becker vom Autokonzern in der Online-Debatte nicht bestätigen. Der Nachfrageschub halte sich in "sehr engen Grenzen", sagte der Manager.

Wer sich ein Auto zulegte, habe eher ein gebrauchtes gekauft. Dank der politischen Maßnahmen sehe BMW aber eine beschleunigte Nachfrage nach Elektroautos. Das sei der Corona-Effekt.

Ein Drittel der Leute, die zurzeit Auto fahren, müssten dies weder tun noch wollten sie es, umriss Becker den Umfang der Umsteigewilligen. Diesen Autonutzern seien aber einfach die Alternativen nicht attraktiv genug. Sie bräuchten verbesserte Angebote – wobei der Automanager hier eher an Dinge wie Carsharing oder Ridepooling denkt.

Balkendiagramm: Die Zahl der Autos pro tausend Einwohner stieg von 532 im Jahr 2000 auf 574 im Jahr 2020.
Verkehrswende nicht in Sicht: Die Zahl der Autos pro Einwohner ist in den letzten 20 Jahren um weitere acht Prozent gestiegen. (Grafik: aus der Studie)

Stefan Genth vom Handelsverband Deutschland (HDE) konnte mit dem Adjektiv "menschengerecht" für den Stadtverkehr nicht viel anfangen, er sprach lieber von einer "kundengerechten" Stadt. Wolle man in den Innenstädten das Einkaufen weiter haben, müsse man die Kunden mitnehmen, sagte Genth – er sei da auch "kein Freund von Verboten".

Nach Ansicht von Hilmar von Lojewski vom Deutschen Städtetag schießt sich der Handel aber ein bisschen ins Knie, wenn alle mit dem Auto vor dem Laden vorfahren wollen. U-Bahn, Rad- und Fußverkehr kippten mehr Leute vor die Türen des Einzelhandels, entgegnete der Raumplaner. "Man muss dem Auto tatsächlich wieder aktiv Räume entreißen, das ist durchaus ein politischer Kampf."

Anke Borcherding vom Verkehrswendebüro bewertete die Lage ähnlich: "Die Flächen müssen zulasten des Autoverkehrs und zugunsten von Zu-Fuß-Gehenden und Radfahrenden neu aufgeteilt werden." Der ruhende Verkehr beanspruche nahezu kostenlos und völlig unproduktiv öffentliche Flächen und der fließende belaste Umwelt und Menschen, sagte sie. "Die Verkehrswende kann nur gelingen, wenn das Leitbild der autogerechten Stadt endlich aus den Köpfen verschwindet."

Sieben Leitlinien

Agora Verkehrswende und mehrere Verbände und Institute empfehlen auf Basis der Studie sieben Leitlinien zur Gestaltung des Stadtverkehrs:

  • Kommunen sowie Bund und Länder nutzen die Corona-Krise als Chance, den Stadtverkehr krisenfest und klimagerecht zu gestalten.
  • Ein krisenfester und klimagerechter Stadtverkehr stärkt die Stadt als attraktiven Lebens- und Wirtschaftsraum.
  • Öffentliche Verkehrsunternehmen gewinnen Fahrgäste zurück und bauen ihr Angebot mit Hilfe von Bund, Ländern und Kommunen aus.
  • Die Digitalisierung im Verkehr wird forciert und dafür eingesetzt, Verkehrsströme zu optimieren und umweltfreundliche Mobilität zu stärken.
  • Fuß- und Radverkehr bekommen mehr Platz, weil sie besonders nachhaltig sind und sich in der Pandemie bewährt haben.
  • Politik und Verwaltung sind bereit, vermehrt Experimente zu wagen, Innovationen aufzugreifen und Verfahren zu beschleunigen.
  • Bund und Länder sorgen für bessere Rahmenbedingungen und mehr Finanz- und Personalressourcen für die Mobilitätswende.

Nach Borcherdings Einschätzung macht die vorgelegte Agora-Studie zwar "nichts falsch – aber leider auch nichts wirklich gut". Das zeige sich besonders an der Zaghaftigkeit der sieben Leitlinien (siehe Kasten).

Eher zaghaft nähert sich die Studie denn auch der Frage, wie die Krise des öffentlichen Verkehrs bewältigt werden kann. Hier richtet sich die Hoffnung vor allem auf einen Digitalisierungsschub im ÖPNV, etwa auf elektronische Tickets. Nutzer könnten dann zum Beispiel auch volle Busse oder Bahnen meiden.

Offensichtlich muss der öffentliche Verkehr erst einmal Vertrauen in seine Sicherheit zurückgewinnen. Verkehrsbetriebe müssten mehr in Hygiene investieren, fordert die Studie – und das bei weniger Fahrgästen und dadurch weniger Einnahmen.

Eigentliches Ziel bleibe aber ein Ausbau des Angebots. Die Studie sieht hier Bund und Länder in besonderer Verantwortung, um neben den Eigenmitteln der Kommunen für eine solide Kofinanzierung aus Steuermitteln zu sorgen.

City-Maut oder Auto-Maut?

Die WZB-Expertin hat da eine andere Idee. "Die Digitalisierung kann in den Städten genutzt werden, um eine ökologische und sozial verträgliche City-Maut einzuführen, die auch die Verkehrsströme steuert", schlug Borcherding vor.

An einer City-Maut schieden sich in der Online-Debatte allerdings die verkehrspolitischen Geister. BMW-Mann Becker lehnte eine Pauschallösung wie in London ab, die spontane Einkäufer genauso belaste wie beispielsweise Taxibetriebe.

Handelsexperte Genth fragte sich, warum er beim Einkauf in der Stadt eine Maut bezahlen solle, beim Einkauf im Internet aber nicht – das sei paradox. Für ihn ist die Debatte völlig überflüssig: Wer eine City-Maut wolle, solle besser gleich sagen, "dass er keinen Handel in der Stadt haben will".

Kurswechsel: So gelingt die Verkehrswende

Der Verkehr erreicht seine Klimaziele nicht – in fast 30 Jahren sind die CO2-Emissionen des Sektors um kaum ein Prozent gesunken. Die Verkehrswende braucht es aber auch, damit Städte mehr Lebensqualität gewinnen und die Belastungen durch Lärm und Schadstoffe sinken. Klimareporter° stärkt deshalb – in Kooperation mit dem Verkehrswendebüro des Wissenschaftszentrums Berlin – den Fokus auf Verkehrsthemen und berichtet in einer Serie über Hemmnisse bei der Verkehrswende und über Lösungen für eine nachhaltige, zukunftsfähige Mobilität.

Aber auch Hilmar von Lojewski betonte, dass der Städtetag kein Verfechter einer City-Maut sei. "Wir sehen darin keinen Königsweg." Wenn eine Kommune das probieren wolle, solle sie das tun. Gegenwärtig gehe es aber vor allem darum, die Finanzen schnell zugunsten des Nichtautoverkehrs umzuschaufeln. Man könne da nicht noch einmal zehn Jahre mit Experimenten verbringen.

Von Lojewski sprach sich in dem Zusammenhang für eine Art umfassender Auto-Maut aus, die europa- oder zumindest bundesweit alle Straßen je nach Zeit, Raum und Transportmittel bemautet.

Dann werde es mit dem Auto eben teurer, frühmorgens um sieben in die Innenstadt zu fahren – aber deutlich billiger, in einer verkehrsarmen Zeit von Dorf A nach Dorf B zu kommen. "So kann man Verhalten steuern."