Reisende warten im Bonner Hauptbahnhof auf einen Zug nach Köln.
Die Zahl der Bahnfahrenden soll eigentlich bis 2030 verdoppelt werden. (Bild: Dimitrios Symeonidis/​Shutterstock)

Vergangenen Freitag. Eine Freundin will morgens von Leipzig nach Dortmund zum abendlichen Bundesligaspiel. Sie hat viel zeitlichen Puffer eingeplant.

Schon wenige Meter nach der Ausfahrt aus dem Bahnhof beginnt die Lok zu rauchen und muss stoppen. Wie ein gestrandeter Wal hängt der volle Zug fest und muss stundenlang evakuiert werden. Die Freundin kommt kurz vor Spielbeginn am Stadion an.

Am selben Tag steht eine andere Freundin nachmittags in Erfurt und will nach Leipzig. Der erste Zug hat zwei Stunden Verspätung, der zweite fällt gleich ganz aus. Nach mehr als vier Stunden kommt der bereits um drei Stunden verspätete ICE: Stellwerksprobleme zwischen München und Nürnberg.

Jede und jeder von uns kann ganze Abende lang solche Erlebnisse beisteuern. Das Problem: Die beiden Freundinnen haben ein Auto, sind aber dabei, sich Schritt für Schritt der Bahn anzunähern, denn sie haben bemerkt: Sitzt man erstmal und fährt, ist die Bahnreise die wunderbarste Form des Reisens.

Aber beide werden in der nächsten Zeit davon Abstand nehmen, weil trotz sehr großzügiger Planung irgendwann das Ziel doch mal erreicht sein will. Die Bahn hat ein zentrales Merkmal ihres Markenkerns verloren: Sie ist nicht mehr zuverlässig. Und das hat System.

Für die Chefs ist die Bahn nur noch ein Berufshobby

Dies liegt zum einen daran, dass der Produktstolz fehlt. Alle Führungskräfte – interessanterweise bis auf den Vorstandschef – haben ein Auto, mindestens einen Dienstwagen, zumeist auch noch einen weiteren privaten Wagen.

Selbst viele Kollegen und Kolleginnen fahren privat mit dem eigenen Wagen. Die Zeiten, in der die Reichsbahnfamilie selbstverständlich kein Auto hatte und die Beamten der Bundesbahn natürlich auch privat Bahn fuhren – übrigens zu ziemlich guten Konditionen –, sind lange vorbei.

Die Bahn ist nur noch ein berufsmäßig ausgeführtes Hobby. Es fällt dann schwer, die Probleme von Menschen zu verstehen, die kein Auto haben. Denn wenn es mal nicht klappt mit der Bahn, dann ist es ja nicht so schlimm, dann kann man halt Auto fahren.

Der nächste Grund liegt in der Bahnreform von 1994, die das System völlig auseinandergerissen hat, um im neoliberalen Glauben an den Wettbewerb das Ganze in einzelne Teile zu zerlegen und praktische jede Schraube in einem internationalen Wettbewerb auszuschreiben.

Dass sich das vor den Augen der Kunden wieder zusammenfügen muss, hat man im Wahn der Kostensenkung vergessen. In diesem Sommer fuhren beispielsweise Regionalzüge am Berliner Bahnhof Gesundbrunnen auf dem Weg zur Ostsee öfter mal einfach vorbei, weil sie schon übervoll waren.

Die Schiene dem Wettbewerbsglauben geopfert

Wenn ein Produkt nachgefragt wird, ist das ja eigentlich schön und man würde mehr Nachschub erwarten. Vor der Bahnreform hätten Reichsbahn und Bundesbahn reagiert und nach heftigem Drängen einfach mehr Züge eingesetzt.

Nach der Bahnreform funktioniert das nicht mehr. Denn der Schienenpersonennahverkehr ist auf dem Altar des Wettbewerbsglaubens geopfert worden.

Im Fall der Ostsee-Regionalzüge müssten sich heute die den Verkehr bestellenden Bundesländer Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern erstmal darauf einigen, wer denn die zusätzlichen Züge überhaupt bestellt und wer bezahlt.

Porträtaufnahme von  Andreas Knie.
Foto: David Außerhofer

Andreas Knie

Der Sozial­wissen­schaftler mit den Schwer­punkten Wissen­schafts­forschung, Technik­forschung und Mobilitäts­forschung lehrt an der TU Berlin und leitet die Forschungs­gruppe Digitale Mobilität am Wissen­schafts­zentrum Berlin. Andreas Knie ist Mitglied im Herausgeberrat von Klimareporter°.

Die Verkehrsverbünde, die viel Geld kosten und das eigentlich regeln sollten, sind dafür gar nicht zuständig, sie kümmern sich dann später um die Tarifgestaltung.

Die Fernverkehrs-Bahn hat überhaupt kein Interesse. Für sie gibt es gar keinen Anreiz, mehr Züge von Berlin an die Ostsee einzusetzen. Das Problem bleibt einfach ungelöst und das nächste Chaos ist vorprogrammiert.

Das vorherrschende Narrativ der Bahnreform heißt Trennung von Netz und Betrieb. Das wurde einst von Ökonomen erfunden, die von der Bahn aber leider keine Ahnung hatten. Sachgemäß muss es Trasse und Traktion heißen. Das ist sozusagen der Maschinenraum der Bahn.

Beides repräsentiert zusammen das System Schiene und funktioniert nur in einer Einheit. Die historisch schlechte Betriebsqualität, ablesbar an Verspätungen, Zugausfällen und einer Rekordsumme an Entschädigungszahlungen, liefert täglich zahlreiche Belege des Versagens.

Leider hat der Bund den Kellerraum, die Maschinen sowie die Aufsicht mittlerweile jeweils an verschiedene Einrichtungen verpachtet. Ein Beispiel: Als im Berliner Hauptbahnhof eine Ladevorrichtung für elektrische Fahrzeuge eingerichtet werden sollte, versammelten sich DB Station und Service, DB Services, DB Sicherheit, DB Fuhrpark sowie die Konzernzentrale, um darüber zu beraten, wie das wohl gehen könnte.

Die unterschiedlichen Funktionen, die früher in einem Bahn-Unternehmen gemeinsam verantwortet wurden und dies mit einer Sitzung hätten erledigen können, müssen jetzt von unterschiedlichen Firmen mit eigener Rechnung übernommen werden. Das dauert Monate und bleibt oft ohne Ergebnis, weil es ja keinen Gesamtverantwortlichen mehr gibt: Es herrscht einfach organisierte Verantwortungslosigkeit.

Neue Gesellschaft Infra Go nur ein Bürokratiemonster

Dieses einfache Beispiel aufs gesamte System übertragen, sieht dann so aus: Menschen, die eigentlich Auto fahren, arbeiten in unterschiedlichen Betriebsteilen in einer ungeeigneten Struktur und versuchen, ein System am Laufen zu halten, das so nicht funktioniert.

Das Netz operiert nach eigenen Regeln, der Fernverkehr ist völlig eigenständig unterwegs und der Regionalverkehr wird von den jeweiligen Bestellverträgen gesteuert, die aber zwischen den Bundesländern unabgestimmt und zum Teil konkurrierend abgeschlossen werden.

Hinzu kommt, dass ein Teil des Regionalverkehrs ja nicht mehr von der Deutschen Bahn selbst, sondern von ausländischen Unternehmen übernommen wurde, die diese Verträge allein durch nicht auskömmliche Kalkulationen bekommen haben und dann bei der ersten Krise nach einer Zusatzfinanzierung rufen – wie das Beispiel des niederländischen Unternehmens Abellio zeigt – oder einfach Insolvenz anmelden. Das Chaos wird immer schlimmer.

Tacheles!

In unserer Kolumne "Tacheles!" kommentieren Mitglieder unseres Herausgeberrats in loser Folge aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen.

Es passt einfach nichts zusammen bei der Bahn. Das scheint auch dem Verkehrsminister klar geworden zu sein, und nun wird eine neue Gesellschaft, die Infra Go, gegründet. Die soll künftig den Wettbewerb auf der Schiene fair aushandeln und die Unternehmen DB Netz und DB Station und Service unter einer Leitung zusammenfassen.

Aber was wäre die Bahn ohne Gewerkschaften. Sie stimmten der Gründung von Infra Go nur zu, weil sich faktisch nichts ändert. Die ursprüngliche Struktur, die Aufgaben und natürlich auch die Bezahlung bleiben als Schattenreich bestehen. Oben drüber wölbt sich nur ein machtloses Bürokratiemonster, das auch noch jede Menge Geld kostet.

Die Bahn ist aber ein System und muss auch als solches behandelt werden. Der Wettbewerb darf nicht zwischen einzelnen Betriebsteilen erfolgen, sondern nur um die Kunden.

Die Bahn muss daher Trasse und Traktion wieder in eine Verantwortung zusammenführen, beispielsweise in einer "Deutsche Eisenbahn AG".

Der bisher getrennt organisierte Schienenpersonennahverkehr ist in seiner jetzigen Struktur aufzulösen und komplett in die Gesellschaft Deutsche Eisenbahn AG einzugliedern. Sämtliche Bestellerorganisationen und Zweckverbände werden aufgelöst.

Allein das Bundesland Sachsen leistet sich fünf eigene Organisationen, um den Schienenverkehr im Land zu organisieren, dessen Betrieb man aber gar nicht versteht.

Die Bahn braucht eine radikale Notoperation

Die Mitarbeitenden in der neuen Gesellschaft bekommen von der neuen Unternehmung auch keine vergünstigten Autos für private Zwecke mehr gestellt. Die Deutsche Eisenbahn hat nur noch Autos, die für den operativen Schienenverkehr notwendig sind.

Thementag bei der ARD

Was muss sich ändern, damit mehr Menschen öffentliche Verkehrsmittel wie die Bahn nutzen? Das fragt die ARD am Montag, dem 4. September, ab 20:15 Uhr im Ersten und in weiteren ARD-Sendern und -Angeboten. Sven Plöger und Louis Klamroth moderieren den Abend im Ersten.

Die neue deutsche Eisenbahn wird alle Auslandstöchter verkaufen und auch keine Ingenieurdienstleistungen im Ausland anbieten. Sie konzentriert sich ausschließlich auf die Sicherung des Kerngeschäfts Schiene.

Car- und Bikesharing, On-demand-Angebote und vergleichbare Aktivitäten sowie das komplette Busgeschäft werden an professionelle Kooperationspartner verkauft.

Damit die Umsetzung auch klappt, wird eine "Bahn-Kommissar:in" eingesetzt, die oder der unmittelbar dem Bundeskanzler unterstellt ist und überwacht, dass alles, aber auch alles ausschließlich für die Aufrechterhaltung des Schienenverkehrs eingesetzt wird.

Die Bahn ist nur noch mit einer Notoperation zu retten, und zwar sofort und radikal. Nur so kann die Schiene als alternativer Verkehrsträger gehalten, stabilisiert und später auch ausgebaut werden. Das jetzige System ist morsch, verbraucht und einfach unsachgemäß zusammengefügt. Das ist nicht mehr zu retten. Aber es muss jetzt gehandelt werden.