Eine Hand hebt den Deckel eines Kochtopfs hoch, der auf einem Elektroherd steht. Dampf entweicht.
Das EU-Emissionshandelssystem wirkt in der Energiekrise nicht wie versprochen. (Foto: Kirill Gorlow/​Shutterstock)

Wer Lohn oder Gehalt bezieht, kennt sich mit brutto und netto aus: Vom Brutto, das auf dem Lohnzettel steht, gehen Sozialversicherung und anderes ab – auf dem Konto landet das Netto.

Auch beim Strom gibt es so einen Unterschied. Was im Kraftwerk an Strom erzeugt wird, ist erstmal ein Brutto. Gerade konventionelle Kraftwerke benötigen auch selbst Strom für ihren Betrieb. Eingespeist ins Netz wird dann die Differenz, die netto erzeugte Strommenge.

Auch beim Europäischen Emissionshandelssystem ETS gibt es so etwas wie brutto und netto.

Ende letzten Jahres einigten sich EU-Parlament, Europäische Kommission und EU-Staaten im üblichen Trilog-Verfahren auf eine Reform des Emissionshandels, konkret des "ETS 1", der Energiewirtschaft und Industrie erfasst und 2005 eingeführt wurde.

Die Reform soll den Emissionshandel verschärfen, damit die EU näher an den Pariser 1,5-Grad-Pfad kommt. Zustimmen müssen der Reform demnächst noch die Regierungen der EU-Länder.

Nach vorliegenden Angaben soll mit der ETS-Reform in der laufenden vierten Handelsperiode von 2021 bis 2030 die Emissionsobergrenze, das sogenannte Cap, von bisher knapp 13,8 Milliarden auf 12,3 Milliarden Tonnen CO2‑Äquivalent sinken, also um etwa 1,5 Milliarden Tonnen.

Es wird insofern eine schärfere Obergrenze geben, die die Klimaemissionen aus Energie und Industrie begrenzt. Der ETS 1 deckt dabei nur rund 40 Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes der EU ab. Er entscheidet also nicht allein, ob die Klimaziele erreicht werden.

Mehremissionen trotz Obergrenze

Die Frage ist: Was passiert im Emissionshandel, wenn es – wie in Deutschland 2022 geschehen – wegen der Gaskrise zu Mehremissionen in der Energiewirtschaft kommt?

Die vermehrte Kohleverstromung führte letztes Jahr zu zusätzlichen Emissionen von 15,8 Millionen Tonnen CO2, ergab jetzt eine Kurzstudie der Berliner Beratungsfirma Energy Brainpool im Auftrag der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy.

Die errechneten Mehremissionen lassen sich direkt auf diejenigen abgeschalteten Kohlekraftwerke zurückführen, die in den Strommarkt zurückgeholt wurden, erläutert Fabian Huneke von Energy Brainpool.

Bei den 15,8 Millionen Tonnen handle es sich um echte Mehremissionen, betonen die Analysten. Der europäische Emissionshandel bewirke hier aufgrund seiner Regeln keinen Ausgleich durch Minderemissionen in der Zukunft.

Das klingt paradox: Es gibt eine Obergrenze, ein "Cap", und trotzdem kommt es zu Mehremissionen.

Massive Löschung von Emissionsrechten sollte 2023 beginnen

Um das zu verstehen, muss man zunächst einen Blick zurück in die Geschichte des Emissionshandels werfen. Dieser krankte in den Anfangsjahren daran, dass es viel zu viele Emissionsberechtigungen gab und der CO2-Preis über Jahre zu niedrig war.

Als Reaktion darauf beschloss die EU 2014, die Versteigerung von Emissionsberechtigungen für 900 Millionen Tonnen CO2 auf 2019 zu verschieben, das sogenannte "Backloading".

2015 sei dann beschlossen worden, diese Menge nicht – wie ursprünglich geplant – 2019 zu versteigern, sondern in eine Marktstabilitätsreserve (MSR) zu überführen, erläutern die Ökonomen Joachim Weimann und Florian Timme von der Uni Magdeburg in einem 2019 erschienenen Fachbeitrag in der Zeitschrift Energiewirtschaftliche Tagesfragen.

Für die Folgezeit sagten die beiden Experten ein weiteres Anwachsen der Marktstabilitätsreserve voraus und schließlich für 2023 eine massive Löschung von Emissionsrechten im Umfang von mehr als einer Milliarde Tonnen CO2.

Tatsächlich haben sich Ende 2021 in der Marktreserve insgesamt 2,6 Milliarden Zertifikate angesammelt, heißt es in der aktuellen Analyse von Energy Brainpool. Normalerweise würde ab 2023 ein Großteil der in der MSR gesammelten Zertifikate endgültig gelöscht werden und damit CO2-Emittenten nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Verknappung ziele darauf ab, das CO2-Preissignal für klimafreundlichere Investitionen zu verstärken, schreiben die Analysten.

Kohle-Weiterbetrieb 2022 verhindert Zertifikate-Löschung 2023

So gesehen, gibt es im ETS praktisch eine Bruttomenge – die mit der Reform festgelegte Obergrenze, das "Cap" – sowie davon abzuziehende Emissionsrechte in der Marktstabilitätsreserve, die ab diesem Jahr gelöscht werden sollen. Das wäre so etwas wie ein Netto.

Die zu löschende Menge ergibt sich dabei aus der Differenz der MSR-Gesamtmenge und dem Auktionsvolumen der Emissionsberechtigungen des Vorjahres, erläutert Energy Brainpool weiter. Von der Höhe der Emissionen, für die die Stromerzeuger für jedes Jahr Emissionsberechtigungen ersteigern müssen, hänge demnach auch ab, wie viel 2023 gelöscht wird.

Der Weiterbetrieb deutscher Kohlekraftwerke im Jahr 2022 verhindert dabei für die Analysten die Zertifikatslöschung durch die MSR von zunächst 24 Prozent der zusätzlich emittierten 15,8 Millionen Tonnen. In drei weiteren Schritten würden dann fast die gesamten Mehremissionen von 2022 aus der Marktreserve fallen.

Im Ergebnis werden also weniger Zertifikate aus der Marktreserve gelöscht. Statt gelöscht zu werden, werden sie später von den ETS-pflichtigen Unternehmen in Energiewirtschaft und Industrie genutzt und erlauben einen entsprechenden CO2-Ausstoß.

Bildlich gesprochen: Auf dem "Topf" des EU-Emissionshandels bleibt zwar ein Deckel drauf, der Topf unter dem Deckel wird aber durch die Nicht-Löschung der Zertifikate in der Marktreserve größer.

Und weil Deutschlands zusätzlichem CO2-Ausstoß auch ein Mehr an Zertifikaten gegenübersteht, gibt es auch keinen Zwang, das Mehr irgendwie durch Minderemissionen auszugleichen.

Paris-konforme Reparatur noch möglich

Nach Meinung vieler Experten reicht auch die mit der Reform beschlossene Brutto-Obergrenze, das neue "Cap", nicht aus, damit der Emissionshandel ausreichend zum Pariser 1,5-Grad-Klimaziel beiträgt.

Für Fabian Huneke sind die deutschen Mehremissionen entsprechend nicht mit dem 1,5-Grad-Ziel vereinbar – und eben umso weniger, als 2023 weiterhin stark ausgelastete Kohlekraftwerke zusätzliches CO2 ausstoßen und Deutschland die dazu benötigten Zertifikate bisher nicht kompensiert, wie der Analyst betont.

Aus Sicht der Berater gibt es mehrere Handlungsoptionen, um drohende Klimaschäden abzuwenden. So könnte das deutsche Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz so geändert werden, dass auch Mehremissionen infolge eines krisenbedingten Weiterbetriebs von Kohlekraftwerken kompensiert werden können.

Auch könne die europäische Klimapolitik sich des Problems im Rahmen der noch laufenden ETS-Reform und der EU-Auktionsverordnung annehmen.

Es gibt also noch Möglichkeiten, einen Deckel auf die klimaschädlichen Emissionen zu bekommen.

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