Dunkelgrüner Strommast von unten gesehen.
Ein echter Krimi spielte sich im vergangenen Juni virtuell im Hochspannungsnetz ab. (Foto: Martin Vorel/​Libreshot)

Unaufhaltsam steigt der Anteil von Strom aus erneuerbaren Quellen, aus Photovoltaik und Wind. Deren Aufkommen ist nicht genau steuerbar. Ihr Produkt muss vielmehr genommen werden, wie und wann die Sonne scheint und der Wind bläst.

Zugleich muss das Netz aber bei der Frequenz von 50 Hertz stabil gehalten werden – mit einer nur geringen Abweichung im unteren Promille-Bereich. Der Stromanfall besonders aus Sonne und Wind bedarf eines Ausgleichs.

Die Frage ist, wo der herkommen soll. Perspektivisch ist klar: Die Stabilisierung des Stromsystems wird auch durch Beiträge von der Nachfrage-Seite erbracht werden, also dadurch, dass also große und viele kleine Verbraucher ihre Stromabnahme dem Angebot anpassen.

Bis heute aber kommen die Ausgleichsleistungen im Wesentlichen von der geplanten Erzeugung von Strom, der in Deutschland – neben etwas Wasserkraft – größtenteils aus Verbrennungskraftwerken stammt.

Auch Populisten haben das Thema Sicherheit der Stromversorgung entdeckt und aufgegriffen. Sie schüren die Sorge, dass die angesichts der Zunahme des Anteils erneuerbaren Stroms die Sicherheit nicht gewährleistet werden könne. In dieser Denkweise bringt der Wegfall von immer mehr Kraftwerken, die auf Verbrennung basieren, das Stromsystem näher an den Abgrund.

Ziel der Populisten ist, die Zustimmung zur Energiewende zu kippen. Unternehmen, deren Geschäftsmodell mit fortschreitender Energiewende dem Untergang geweiht ist, ziehen argumentativ am selben Strang – das versteht sich beinahe von selbst.

Fossile "Speicher"

Die Sicherheit der Stromversorgung war auch früher schon prekär. Im alten System lag die Aufgabe, Groß-Blackouts zu verhindern, bei den "integrierten" Stromversorgern mit ihrem jeweiligen Gebietsmonopol. Diese verfügten dazu über die Kraftwerke und die Netze. Die Kosten dafür wurden auf die Stromkunden umgelegt.

Mit der "Liberalisierung" der leitungsgebundenen Energieversorgung, von Strom und Gas, um die Jahrtausendwende wurde auch die Sicherheit der Stromversorgung neu geordnet. Der Gesetzgeber legte sie 2011 in die Hände der sogenannten Übertragungsnetzbetreiber.

Porträtaufnahme von Hans-Jochen Luhmann.
Foto: Wuppertal Institut

Jochen Luhmann

studierte Mathematik, Volkswirtschafts­lehre und Philosophie und promovierte in Gebäude­energie­ökonomie. Er war zehn Jahre als Chefökonom eines Ingenieur­unternehmens und 20 Jahre am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie tätig. Er ist Vorstands­mitglied der Vereinigung Deutscher Wissen­schaftler (VDW) und Herausgeber der Zeitschrift Gaia.

Alles, was erforderlich ist, damit so ein voll wettbewerblich organisierter Markt täglich reibungsarm funktioniert, haben die Übertragungsnetzbetreiber zu erbringen.

Die Leistungen dafür werden als "Produkte" definiert und qua Ausschreibung, also ebenfalls wettbewerblich, eingekauft. Die Kosten dafür legen die Übertragungsnetzbetreiber wie früher als "Netznutzungskosten" um.

Den Populisten sei an dieser Stelle gesagt: Wenn künftig Verbrennungskraftwerke fehlen sollten, dürfen die Übertragungsnetzbetreiber sogar welche errichten lassen und mögliche Defizite ihrer Arbeit auf alle Kunden umlegen.

An Verbrennungskraftwerken aber ist kein Mangel. Die gibt es – immer noch – in reichlichem Überschuss. Ein Verbrennungskraftwerk, das chemisch gespeicherte Energie in Form fossiler Energieträger umwandelt, ist im Grunde genommen eine Speicher-Technologie.

Bis moderne elektrochemische Speicher gegen den abgeschriebenen Bestand an Verbrennungskraftwerken zu konkurrieren vermögen, vergeht noch ein halbes Jahrhundert. Und sofern solche Kraftwerke nur gelegentlich zum Ausgleich oder gar nur in der Not eingesetzt werden, ist ihre Klimawirkung auch marginal und unproblematisch.

"Regelenergie" für Notfälle

Doch zurück zum Netz. Die Übertragungsnetzbetreiber haben vor allem dafür zu sorgen, dass die Frequenz jederzeit stabil bleibt, dass also Stromerzeugung und -nachfrage praktisch auf die Kilowattstunde übereinstimmen.

Zu diesem Zweck haben die Übertragungsnetzbetreiber einen Spezialmarkt für Strommengen organisiert, die nur ihnen zur Verfügung stehen und kurzfristig zur Frequenzstabilisierung abrufbar sind: den Markt für "Regelenergie".

Da wird für die Übertragungsnetzbetreiber eine jederzeit verfügbare Strommenge vorgehalten, die weit vorab von ihnen eingekauft worden ist. Geregelt wird, indem in Blitzesschnelle entweder durch Lastabwurf die Nachfrage gesenkt oder aber zusätzlicher Strom erzeugt wird. So halten thermische Kraftwerke eine Leistungs-Lücke zum Betrieb in Volllast frei, um diese im Anforderungsfall zu nutzen.

Die "Regelenergie" ist aber nur für den Notfall gedacht, sie soll "Reste" physikalisch ausgleichen, die auf dem Strommarkt nicht hundertprozentig zum Ausgleich gebracht wurden. Oder es gilt Ausnahmefälle auszugleichen, wenn ein großes Kraftwerk von gleich auf jetzt außer Betrieb geht oder wenn eine der großen Übertragungsleitungen nicht mehr nutzbar ist oder wenn das Wetter kurzfristig anders kommt, als von den Meteorologen vorhergesagt und es bei Wind und Sonne plötzlich ganz anders läuft.

Bevor die "Regelenergie" in Aktion tritt, haben zunächst aber die sogenannten Bilanzkreisverantwortlichen Angebot und Nachfrage beim Strom auszugleichen. Für den ihnen zugeordneten Kundenkreis haben sie Strom vorab auf den Märkten einzukaufen, und zwar so, dass in jeder Viertelstunde in ihrem Kreis Angebot und Nachfrage ausgeglichen werden.

In Extremsituationen müssen sie möglicherweise tief in die Tasche greifen, um die zum Ausgleich erforderlichen Strommengen noch in letzter Minute einzukaufen. Geregelt sind ihre Geschäfte in einem von der Bundesnetzagentur normierten Vertrag zwischen Bilanzkreisverantwortlichen und Übertragungsnetzbetreibern.

De facto haben die Bilanzkreisverantwortlichen aber auch die Option, sich durch die bestehende Sicherheitsrücklage der Übertragungsnetzbetreiber – den Rückgriff auf die "Regelenergie" – quasi "herauskaufen" zu lassen. Das ist zwar illegal, aber ein wohlbekannter Ausweg.

Zudem sind die Kosten, kurzfristig auf die ohnehin vorhandene "Regelenergie" zurückzugreifen, für die Bilanzkreisverantwortlichen gelegentlich viel geringer, als wenn sie auf Biegen und Brechen noch am Markt kurzfristig Strom einkaufen müssen. Unternehmen, die auf Gewinnmaximierung aus sind, können versucht sein, das von den Übertragungsnetzbetreibern vorgehaltene preiswerte Sicherheitspolster für sich auszunutzen.

Systemgefährdendes Ungleichgewicht

In das Bild passt, dass sich im deutschen Übertragungsnetz seit dem Winter 2018/2019 wiederholt systemische Ungleichgewichte erkennen ließen, die in ihrer Höhe deutlich über das Maß der sonst im Netz üblichen Schwankungen hinausgingen. Es war etwas im Busche. Es gab Indizien für eine systematische Ausnutzung des von den Netzbetreibern gebotenen kollektiven Schutzes, der "Regelenergie" – nicht nur durch einzelne Bilanzkreisverantwortliche, sondern durch mehrere.

An drei Tagen im Juni 2019 – am 6., am 12. und am 25. Juni – übertrieben die "Weiße-Kragen-Täter" dann völlig. Im deutschen Stromnetz waren von Bilanzkreisverantwortlichen Strommengen für die ausgleichende Einspeisung in einem Umfang kurzfristig nicht geordert worden, der systemgefährdend war.

Die Spitze des Ungleichgewichts wurde am 12. Juni 2019 mit etwa 9.700 Megawatt erreicht. Das ist sehr viel und entspricht der Leistung von acht Kernkraftwerken. Die bereits aufgefallenen Ungleichgewichte seit dem Winter 2018/2019 entpuppten sich als ein Eisberg, dessen Spitze im Juni 2019 zum Vorschein kam.

Offenbar hatten Stromhändler, die Bilanzkreisverantwortlichen also, sich verspekuliert. Und als sie einen Tag vorher feststellten, wie groß die fehlenden Mengen am Folgetag sein würden, haben sie kalkuliert:

Der – recht gut prognostizierbare – Preis für die "Regelenergie" in der Viertelstunde vor 12 Uhr, den ihr zuständiger Übertragungsnetzbetreiber ihnen in Rechnung stellen würde, lag bei 377 Euro für die Megawattstunde.

Der Preis für kurzfristig für den Folgetag noch zu beschaffenden Strom lag für dieselbe Viertelstunde hingegen bei 1.300 Euro je Megawattstunde – das ist fast das 3,5-Fache. Bei einer Differenz von mehr als 900 Euro ging es deutschlandweit um 27 Millionen Euro, die die Bilanzkreisverantwortlichen pro Viertelstunde hätten ausgeben müssen.

In der Lage habe sie abgewogen und im Ergebnis den für den pflichtgemäßen Ausgleich zu zahlenden Preis für zu hoch gehalten, die Strommengen also nicht bestellt. Stattdessen ließen sie sich durch die Sicherheitsrücklage der Übertragungsnetzbetreiber "herauskaufen".

Hinter der Wand der Anonymität, gezimmert aus dem Baumaterial "Datenschutz", glaubten sie sich unentdeckbar. Und soweit es um Einzelfall-Verhalten geht, war das auch lange so.

Die später gelieferte Begründung der Bilanzkreisverantwortlichen, sie hätten sich bei der Strom-Prognose getäuscht, kann zwar im Einzelfall wahr sein, doch in diesem Fall waren die zum Ausgleich fehlenden Mengen ungewöhnlich hoch – es roch gleichsam nach gleichgerichtetem Massenverhalten.

Mahnende Worte

Die Bundesnetzagentur als zuständige Regulierungsbehörde reagierte umgehend. Am 18. Juli 2019 kündigte sie eine Untersuchung der Urheberschaft sowie ein "Maßnahmenpaket zur Stärkung der Bilanzkreistreue" an.

Die Maxime fasste der Vizepräsident der Behörde in die Worte: "Wir wollen Risiken für die Versorgungssicherheit minimieren. Gefährliche Unterdeckungen der Bilanzkreise sollen sich nicht lohnen."

Diese Vorgabe ist klar. An ihr ist zu bemessen, was die Bundesnetzagentur an Schlussfolgerungen gezogen hat. Ihr Maßnahmenpaket vom 11. Dezember 2019 kommt allerdings in Teilen einer Kapitulationserklärung nahe.

Liege der Preis für Ausgleichsenergie unter dem im Handel für Strom zu zahlenden Preis, schrieb die Netzagentur, bestehe für die "unterspeisten Bilanzkreisverantwortlichen zwar eine rechtliche Verpflichtung, aber kein wirksamer ökonomischer Anreiz, ihre Bilanzkreise auszugleichen und sich bilanztreu zu verhalten".

Das besagt: Die Bundesnetzagentur geht von dem Primat der Profitorientierung bei Unternehmen aus, mit denen sie vertraglich eine treue Bewirtschaftung des Stromsystems vereinbart hat.

Insgesamt war gegen sechs Unternehmen ermittelt worden, gegen eines wurden die Vorwürfe fallen gelassen. Am 21. und am 30. April 2020 wurden die Ergebnisse des Verfahrens gegen die fünf anderen Unternehmen öffentlich gemacht.

Festgestellt wurden zunächst Verstöße der Unternehmen Energie Vertrieb Deutschland (EVD) aus Hamburg und Optimax Energy aus Leipzig, anschließend die von Centrica, Danske Commodities und Statkraft.

Alle fünf Unternehmen erhielten ein abmahnungsähnliches Schreiben. Das signalisierte: Wenn ihr das noch einmal macht, könnten wir den für euch so lukrativen Vertrag kündigen!

Mehr an "Sanktionen" infolge eines vertragsbrüchigen Verhaltens, das vermutlich über mehr als ein Jahr anhielt, folgte nicht. Selbst amtlich als illegal erworben festgestellte Gewinne wurden nicht eingezogen.

Mehr an Großzügigkeit ist schwerlich vorstellbar. Zu zahlen haben dafür andere Marktteilnehmer sowie die Stromkunden. Proteste von deren Seite oder von Netzbetreibern oder Verbraucherverbänden wurden bislang nicht bekannt.

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