Häuser in Tübingen, gespiegelt in Wasser
Tübingen macht Ernst mit der Solarwende. (Foto: H. Bieser/​Pixabay)

Er ist ein Macher, und das nicht erst seit Kurzem. Als Boris Palmer Mitte der 1990er Jahre in Tübingen studierte, setzte er – damals bereits als Referent für Umwelt und Verkehr in der Studentenvertretung aktiv – in der Unistadt Nachtbusse durch.

Mit der ihm eigenen Kreativität warb er dafür auf seiner Internetseite nachtbussi.de. Schon damals war klar: Von dem Mann wird man noch hören.

Nach seinem Studium der Mathematik saß Palmer sechs Jahre lang für die Grünen im Landtag von Baden-Württemberg, gab sein Mandat aber ab, als er 2007 zum Oberbürgermeister von Tübingen gewählt wurde.

Heute ist Palmer der wohl umtriebigste OB einer mittelgroßen deutschen Stadt; Tübingen hat knapp 90.000 Einwohner. Als solcher trat er immer wieder bundesweite Debatten los, etwa, als er bei seinem Amtsantritt einen japanischen Dienstwagen wählte, weil deutsche Hersteller ein entsprechendes Hybridfahrzeug damals nicht im Angebot hatten – was im Autoländle vielfach als Affront gewertet wurde.

Jetzt hat der Sohn eines durch sein Rebellentum gegen das schwäbische Politestablishment prominent gewordenen Obstbauern einen neuen Coup gelandet: Auf seine Initiative hin führt Tübingen als erste Stadt Deutschlands eine Photovoltaikpflicht für Neubauten ein.

Einen entsprechenden Grundsatzbeschluss fasste der Gemeinderat kürzlich mit großer Mehrheit. Die Mindestleistung der Anlagen wird noch durch die Stadtverwaltung zu definieren sein.

Formal verankert wird die Auflage in den Grundstücks-Kaufverträgen, sofern die Stadt der vorherige Grundbesitzer ist. In den anderen Fällen wird die Pflicht über einen städtebaulichen Vertrag geregelt. Die Stadt sieht sich dazu durch das Baugesetzbuch legitimiert, räumt aber ein, dass es zur Frage der Zulässigkeit einer solchen Auflage noch keine einschlägigen Urteile gebe.

Allerdings hat Tübingen ein entsprechendes Konzept in seinem größten Baugebiet auf dem Güterbahnhof-Areal in den vergangenen zwei Jahren bereits durchgezogen. Alle Bauherren hätten die Photovoltaik-Pflicht dort akzeptiert, sagt Palmer.

Auf der sechs Hektar großen Fläche wird nun jedes Haus eine Solaranlage bekommen, womit eine Gesamt-Nennleistung von etwa zwei Megawatt zusammenkommt. Damit steigt die Photovoltaik-Kapazität in der Stadt um rund 20 Prozent. Weil das so reibungslos lief, ist eine entsprechende Regelung nun in der ganzen Stadt vorgesehen.

In Marburg funkten übergeordnete Behörden dazwischen

Einzelne Anläufe mit ähnlichem Ziel gab es in deutschen Kommunen schon früher. Am offensivsten hatte einst Marburg agiert, wo das Stadtparlament im Juni 2008 per Satzung die Bauherren zur Nutzung der Solarthermie verpflichtete: Pro 20 Quadratmeter Geschossfläche wurde bei Neubauten oder Gebäudeerweiterungen die Installation von einem Quadratmeter Sonnenkollektoren vorgegeben.

Das führte allerdings zu Ärger. Das Regierungspräsidium in Gießen hielt die Solarsatzung für unzulässig und hob das Regelwerk per Verfügung wieder auf. Eine überarbeitete Fassung, nun in Abstimmung mit dem Regierungspräsidium, folgte im Oktober 2010.

Diesmal jedoch war es das Land Hessen, das dazwischenfunkte, indem es flugs die Landesbauordnung änderte. Die Regelung, nach der Kommunen Vorschriften über "besondere Anforderungen an bauliche Anlagen" erlassen können, wurde gestrichen – und der Marburger Solarsatzung war die rechtliche Grundlage entzogen.

In der Folge legte die Universitätsstadt fest, dass bei neuen Bebauungsplänen 30 Prozent der künftigen Dachflächen mit Solaranlagen ausgerüstet werden sollen, wobei den Bauherren freigestellt ist, ob sie Solarthermie oder Photovoltaik installieren. Aber diese Vorgabe betrifft eben nur Flächen mit neuen Bebauungsplänen.

Die ursprüngliche Solarsatzung hingegen hätte den Einsatz regenerativer Energieträger auch bei wesentlichen Änderungen am Dach oder dem Austausch der Heizungsanlage zur Pflicht gemacht. "Dabei orientierten sich die damals Verantwortlichen der Stadt Marburg an einem baden-württembergischen Landesgesetz", erklärt eine Sprecherin der Stadt. Doch Marburg ist Hessen, und mit der Änderung der Hessischen Bauordnung war eine Auflage für Bestandsbauten nicht mehr möglich.

Tübingen nutzt eleganten rechtlichen Hebel

Im Schwäbischen sagt nun OB Palmer, er habe Marburg "aufmerksam verfolgt", und deswegen gehe Tübingen einen ganz anderen Weg. Statt die neue Solarstrategie über eine kommunale Satzung zu regeln, nutzt Tübingen den Hebel der Grundstückskaufverträge. In diese nämlich könne man alles reinschreiben, was nicht sittenwidrig ist, sagt der Rathauschef.

Ähnlich großen Spielraum habe man in städtebaulichen Verträgen. Da in Tübingen neue Baugebiete aber ohnehin nur noch ausgewiesen werden, wenn zuvor alle Grundstücke an die Stadt verkauft sind, greift in der Regel die Baupflicht über den Kaufvertrag, was stets der eleganteste Weg ist.

Der Beschluss umfasst alle Objekte, "bei denen die vorgesehene Bebauung einen Strombedarf bedingt", also auch gewerbliche und öffentliche Gebäude. Voraussetzung ist aber, dass eine Solarstromanlage "mit einem wirtschaftlich angemessenen Aufwand errichtet und betrieben werden" kann. Dieser Passus soll auch der Rechtssicherheit dienen. Und natürlich der Akzeptanz.

Die Einschränkung könnte zum Beispiel für ein Haus greifen, das im Schatten eines Hochhauses steht. Aber im Tübinger Rathaus ist man überzeugt, dass solche Sonderfälle selten sein werden. Eine Ausnahme soll es ferner für Bauten geben, die auf ihrem Dach eine definierte Menge Solarthermie nutzen.

Der Beschluss soll die Stadt ihrem Ziel näherbringen, die energiebedingten CO2-Emissionen pro Kopf bis 2022 gegenüber dem Wert von 2014 um 25 Prozent zu senken. Ein solcher Fortschritt sei nur unter Mitwirkung der Bürgerschaft möglich, betont die Stadtverwaltung in ihrer Beschlussvorlage zur Solarpflicht.

Die Optionen bei den Erneuerbaren sind in Tübingen – wie in vielen Ballungsräumen – überschaubar. Da das nutzbare Potenzial der Wasserkraft in der Stadt ausgeschöpft sei, die Windkraft auf städtischem Gebiet am Naturschutz scheiterte, Klärgas bereits vollständig verstromt werde und eine zusätzliche Nutzung von Biogas nicht absehbar sei, biete im Stromsektor alleine die Photovoltaik noch "ein großes, einfach nutzbares Potenzial".

Alles spricht für Dachanlagen

Da es zugleich für Solarmodule geeignete Freiflächen in Tübingen nicht gibt, und der Eingriff in die Natur durch solche Anlagen ohnehin zu groß sei, spreche alles für Dachanlagen, sagt Palmer. Zumal diese auch strukturell viel sinnvoller seien: "Für den Eigenverbrauch muss man aufs Dach."

Gebäudeeigentümer, die die Investition in eine Solarstromanlage scheuen, werden dazu nicht verpflichtet. Sie können sich stattdessen für ein Pachtmodell entscheiden.

Dem Gemeinderat war die Existenz einer solchen Alternative so wichtig, dass er sie zur Voraussetzung für seine Zustimmung machte: Die Baupflicht gilt laut Ratsbeschluss nur so lange, wie "für den Bauherren Wahlfreiheit zwischen Eigentum und Pacht gegeben ist".

Die Stadtwerke Tübingen haben bereits ein entsprechendes Angebot ausgearbeitet. Sie planen auf Wunsch die Anlage, finanzieren und warten sie. Aufgrund der Pachtkonstruktion können die Bewohner den Solarstrom dennoch selbst nutzen. Der Kunde zahlt die Anlage dann über seine Stromrechnung ab: Als Gegenleistung für den günstigen Eigenstrom wird eine monatliche Pacht für die Anlage fällig.

In der Summe, rechnet Oberbürgermeister Boris Palmer vor, werden die Verbraucher, bezogen auf ihre Gesamtstromrechnung, dank Photovoltaik auf einen Preisvorteil von etwa zwei Cent je Kilowattstunde kommen.

In der Praxis dürfte das Pachtmodell jedoch eine Lösung für die Nische sein. Die Stadtwerke, die schon Pachtanlagen im Angebot hatten, bevor es die Solar-Pflicht gab, haben die Erfahrung gemacht, dass die weitaus meisten Bürger ihre Anlage lieber selbst finanzieren. Und es gibt keinen Grund, warum sich das ändern sollte, zumindest solange die Zinsen auf einem so extrem niedrigen Niveau verharren wie derzeit.

Nachdem im Juli der Gemeinderat von Tübingen mit satter Zwei-Drittel-Mehrheit das Solarkonzept absegnete, teilte der Rathauschef per Facebook mit: "Ich bin sehr stolz darauf, wie Stadt und Rat in die Rolle ökologischer Pioniere geschlüpft sind." Die vorausgegangene Diskussion im Gemeinderat sei "sehr sachlich" verlaufen.

Aber warum braucht es überhaupt eine Pflicht, wenn die Vorteile der Photovoltaik für den Hausbewohner doch auf der Hand liegen?

Solarmodule seien zwar "in der Stadt die billigste und beste Stromquelle“, erläutert der Grünen-Politiker. Trotz dieser Vorzüge seien in Tübingen aber allenfalls fünf Prozent der Dachflächen mit entsprechenden Anlagen bestückt. Denn viele Bürger beschäftigen sich nach Palmers Erfahrung schlicht nicht mit dem Thema – und lassen die damit verbundenen Chancen dann ungenutzt.

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