Der Kampf ums deutsche Stromnetz wird härter. Ins Visier gerät jetzt offenbar ein Herzstück der Energiewende: der seit dem Jahr 2000 mit Inkrafttreten des ersten Erneuerbare-Energien-Gesetzes geltende Einspeisevorrang für Ökostrom. Dieser soll beschnitten werden, berichten einige Medien. Noch für dieses Jahr sei ein Gesetzentwurf zur Relativierung des Einspeisevorrangs zu erwarten.
Nun, ganz so wörtlich ist der Angriff auf den Ökostrom nicht in der mehr als 150-seitigen, Klimareporter vorliegenden Studie der Forschungsinstitute Ecofys, Consentec und BBH zu finden. Deren Ausgangspunkt sind die seit Jahren kritisierten Kosten für sogenannte Netzeingriffe, wenn das deutsche Stromnetz unter einem regionalen Überangebot von Strom ächzt.
2016 haben die Netzbetreiber laut Studie 3,7 Milliarden Kilowattstunden erneuerbaren Strom abgeregelt und bei konventionellen Kraftwerken – also Kohle, Gas und Atomkraft – "Leistungsanpassungen" von 6,2 Milliarden Kilowattstunden vorgenommen. Hinzu kommen noch 1,2 Milliarden Kilowattstunden aus Auslands-Kraftwerken, der sogenannten Netzreserve.
Insgesamt wurden also 2016 rund elf Milliarden Kilowattstunden hin- und her geregelt. Der Höhepunkt der Netzeingriffe scheint allerdings schon überschritten. So waren laut Bundesnetzagentur 2015 noch rund 15,4 Milliarden Kilowattstunden abgeregelt oder zusätzlich angefordert worden, um die Netzsicherheit zu garantieren.
Für 2017, beklagen die Studienautoren, würden sich die Kosten der Netzeingriffe auf mehr als 1,2 Milliarden Euro summieren. Im vergangenem Jahr fiel allerdings ein Großteil der Kosten nicht dadurch an, dass Wind und Sonne zu viel Strom erzeugten, sondern weil, wie Experten der Berliner Beraterfirma Energy Brainpool kürzlich erläuterten, zu Jahresanfang in Frankreich bei hoher Stromnachfrage bis zu zwölf AKW keinen Strom einspeisten. Den bezog das Nachbarland dann teilweise aus Deutschland – und in dieser Phase fuhren viele Netzbetreiber und Energieversorger in Europa ihre Reservekraftwerke hoch und sorgten so für hohe Netzkosten.
Von solchen Zusammenhängen zeigt sich die Studie aus dem Wirtschaftsministerium jedoch unbeeindruckt. Um die Kosten des Engpassmanagements spürbar zu verringern, sei eine "Relativierung des nachrangigen Einsatzes" von Erneuerbaren- und Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen (KWK) sowie der Netzreserve notwendig, heißt es dort.
Wer den "nachrangigen Einsatz" relativieren und also auf Wind, Sonne und Biomasse zuerst zugreifen will, muss in dieser energiepolitischen Logik den Vorrang der Einspeisung des erneuerbaren Stroms aufheben – zumindest für die Zeit, in der das Netz angeblich wackelt.
Die Studienautoren sind sich der Brisanz durchaus bewusst und versuchen zu beruhigen: "Der Großteil der jährlichen Einspareffekte im Hinblick auf Kosten und Umfang der Netzengpassbehebung kann bereits bei einer moderaten und dann nur in vergleichsweise wenigen Stunden wirksamen Relativierung des nachrangigen Einsatzes der betroffenen Erzeugungskategorien erzielt werden."
Dadurch würden auch, räumt das Papier ein, die CO2-Emissionen ansteigen, weil die zusätzliche Abregelung von Erneuerbaren- und KWK-Anlagen durch das "Hochfahren konventioneller Kraftwerke mit entsprechendem zusätzlichen CO2-Ausstoß ausgeglichen wird". Die Studie schätzt zwar, dass der deutsche CO2-Ausstoß damit um jährlich weniger als einen Prozentpunkt ansteigt – Klimaschützer, die die deutsche Klimalücke für 2020 ohnehin auf schon zehn Prozentpunkte schätzen, werden sich darob aber die Haare raufen.
Konventionelle Erzeuger wollen Kosten auf Erneuerbare abladen
Allerdings kommt an der Stelle mit dem "Hochfahren" der offenbar eigentliche Kern des Vorschlags zum Vorschein: Die Eigentümer der Kohle-, Gas und Atomkraftwerke sind es langsam leid, ihre Anlagen herauf- und herunterfahren zu müssen. Das sollen – bitteschön – künftig vor allem die Erneuerbaren übernehmen.
Für diese Idee hege das Wirtschaftsministerium Symphatien, ist zu hören. Für die Grünen-Parteivorsitzende Annalena Baerbock läuft das auf "Energiepolitik absurd" hinaus. "Kohlestrom verstopft die Netze, Atomstrom darf obendrein in Netzengpassgebiete übertragen werden – aber die Erneuerbaren dreht die Bundesregierung zurück", empört sich Baerbock gegenüber Klimareporter. Werde der Einspeisevorrang – ein Grundpfeiler der Energiewende – angesägt, werde die Bundesregierung nicht mal ihr Ziel erreichen, die Erneuerbaren auf 65 Prozent bis 2030 auszubauen, kritisiert Baerbock.
Dass die konventionellen Kraftwerke das deutlich größere Problem bei den Engpass-Kosten sind, die Vorschläge der Studie aber allesamt zu Lasten der Erneuerbaren gehen, stört Marcel Keiffenheim vom Ökostromer Greenpeace Energy ebenso gewaltig. "Es gibt wesentlich klügere Maßnahmen, Netzengpässe in den Griff zu bekommen – zum Beispiel, indem man bei den konventionellen Kraftwerken Schlupflöcher wie Wärmeversorgung oder Eigenverbrauch schließt", erklärt Keiffenheim gegenüber Klimareporter. Denn damit würden diese Betreiber noch immer begründen, dass ihre Anlagen voll weiterlaufen müssten, obwohl dem Netz absehbar Überlastung drohe.
In der Studie stecken allerdings weitere Vorschläge, die bei genauerem Hinsehen auf eine noch weitergehende netztechnische Entmachtung der Ökostromer hinauslaufen können.
So konstatieren die Autoren eine "unzureichende" Kommunikation zwischen den Erneuerbaren- und KWK-Anlagen auf der einen Seite und den Netzbetreibern auf der anderen. Deshalb sei eine möglichst weitgehende Nutzung von Planungsdaten bei Abregelungen von Erneuerbaren und KWK-Anlagen anzustreben, so ihre Forderung.
Anders gesagt: Wer Ökostrom anbietet, soll möglicherweise künftig seine geplante Stromerzeugung noch detaillierter als bisher offenlegen. Netzbetreiber und konventionelle Stromkonkurrenz müssen sich dann nicht einmal mehr den Wetterbericht anschauen, um zu wissen, was jede einzelne Ökostrom-Anlage liefern könnte – die Daten werden ihnen frei Haus geliefert.
Die Studie schlägt sogar vor, dass die Verantwortung für den Kostenausgleich bei Abregelung von Erneuerbaren- und KWK-Strom auf die Netzbetreiber übergehen soll. Der Netzbetreiber darf dann also möglicherweise entscheiden, was Ökostromer an Entschädigung für eine Abregelung bekommen. Deren betriebswirtschaftliches Wohl und Wehe hängt dann auch vom Goodwill des Netzbetreibers ab.
Die Erneuerbaren-Branche selbst scheint alarmiert. Man werde die Studie in den nächsten Tagen "umfassend prüfen und eigene Vorschläge erarbeiten", gab Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbandes Erneuerbare Energie (BEE), bekannt. Peter begrüßte gegenüber Klimareporter, dass die Bundesregierung inzwischen selbst darauf hingewiesen hat, dass der Einspeisevorrang erhalten bleiben soll.
Es wäre aber noch besser, so Peter, wenn die Regierung sich dafür einsetzen würde, dass die Vorrangregelung auch in der täglichen Praxis angewendet wird. "Es kommt immer noch viel zu häufig vor, dass Erneuerbare-Energien-Anlagen abgeregelt werden, während Kohle- und Atomkraftwerke weiterlaufen."
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