Armen Kirakosjan sitzt an seinem Schreibtisch in einem kleinen Büro am nördlichen Stadtrand der armenischen Hauptstadt Jerewan. Er ist umgeben von einem halben Dutzend Regalen, die mit Hunderten Büchern gefüllt sind. Einige davon werden von amerikanisch anmutenden Fotos verdeckt – es sind Fotos von Pferden und ihren Reitern.
Kirakosjan ist studierter Ingenieur. Im Jahr 1980 gründete er, zusammen mit ein paar Freunden, die Pferdefarm Ajrudsi in der Stadt Aschtarak nördlich von Jerewan, die sich später zu einem Reitklub entwickelte. Später, im Jahr 2007, kombinierte Kirakosjan seine Liebe zu Pferden und moderner Technik, indem er Ajrudsi in eine Nichtregierungsorganisation weiterentwickelte mit dem Ziel, Energiegenossenschaften in Armenien zu etablieren.
Seit 2013 arbeiten die Mitglieder des Klubs an der Gründung einer solchen Energiekooperative. Erst kürzlich haben sie eine erste Solarstation installiert, die den Reitclub in Ajrudsi mit Strom versorgt.
Auf seine Beweggründe angesprochen, füllt der 60-Jährige seine Pfeife mit dunklem Tabak, zündet sie an und nimmt einen Zug. Dann erzählt er von seinen ausgedehnten Wanderungen durch das Ararat-Tal südwestlich von Jerewan und den Pflanzen, die vor 30 oder 40 Jahren am Ufer des Flusses Aras am Fuße des Tals gediehen. Heute wachsen die gleichen Pflanzen 200 Meter höher.
Energiegenossenschaften und Klimawandel
Kirakosjan sagt dazu: "Das Klima verändert sich und im Ararat-Tal haben wir jetzt schon einen Desertifikationsprozess." Er glaubt, dass Energiegenossenschaften Teil der Lösung sein können, indem sie die Abhängigkeit Armeniens von Erdgas verringern und die Energiekosten für die Verbraucher senken. Abgesehen davon, fügt Kirakosjan lächelnd hinzu, finde er neue Technologien einfach spannend – schließlich sei er Ingenieur.
Während Armen Kirakosjan klare Vorstellungen davon hat, was Armenien gegen die Klimakrise tun kann, ist das Thema selbst noch nicht tief im Bewusstsein der armenischen Bevölkerung verankert. Das Land hat zwar eine lange Geschichte von Umweltprotesten, bei den meisten ging es aber um lokale Probleme, die Flüsse, Seen oder Wälder in Armenien betreffen.
So blockierten kürzlich Bürger der Kurstadt Dschermuk den Weg zur inzwischen berüchtigten Goldmine Amulsar, die das Wasser in Dschermuk und sogar den Sewansee, Armeniens Süßwasserspeicher, zu verunreinigen droht. Das ist nur der jüngste Schritt in einer Reihe von Umweltkonflikten.
Armeniens "Samtene Revolution"
Dass die globale Erwärmung in der Öffentlichkeit nicht ganz oben auf der Agenda steht, sollte noch aus einem anderen Grund niemanden überraschen. Armenien bleibt ein Land, in dem die Treibhausgasemissionen weit unter der nationalen Obergrenze liegen, die das Pariser Klimaabkommen vorsieht. Pro Kopf übersteigen sie kaum die Emissionen von Indien.
Entscheidender ist jedoch, dass die Armenier bis dato mit ganz grundsätzlichen Problemen zu kämpfen haben. Erst vor anderthalb Jahren begann sich die armenische Gesellschaft von einer korrupten politischen Elite zu befreien – in der von den sozialen Medien getriebenen "Samtenen Revolution".
Daniel Kopp
ist Journalist und leitender Redakteur bei International Politics and Society (IPS) in Brüssel, einem Online-Magazin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er hat in Bonn, Oxford und im schottischen St. Andrews Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie studiert. In der Zeitschrift The Ecologist erschien sein Artikel auf Englisch.
Seitdem hat die neue armenische Regierung unter dem ehemaligen Oppositionsführer Nikol Paschinjan die systemische Korruption beendet – das geben selbst Oppositionsabgeordnete zu – und versucht nun, Wirtschaft, Bildung, Gesundheit und andere Bereiche zu reformieren. Man spürt eine Atmosphäre der Hoffnung, aber auch hohe Erwartungen im Land.
Zudem setzt sich Paschinjan für einen schnelleren Übergang Armeniens zu erneuerbaren Energien ein. Der Fünfjahres-Wirtschaftsplan seiner Regierung sieht vor, dass die Solarenergie im Jahr 2024 zehn Prozent des landesweiten Energieverbrauchs decken soll.
Der Vorstoß macht Sinn: Armenien verfügt über ein riesiges, unerschlossenes Potenzial für erneuerbare Energien – Wasserkraft, Solarenergie, Windkraft und Erdwärme. Das gilt vor allem für die Solarbranche. Laut der armenischen "Solarkarte" erhält das Land jährlich 1.720 Kilowattstunden pro Quadratmeter Sonnenenergie, in Europa sind es durchschnittlich nur 1.000.
Geopolitisch in der Klemme
Die Pläne des neuen Premiers, die Energieversorgung Armeniens zu diversifizieren, sind zugegebenermaßen nicht ganz neu. Die Vorgängerregierungen haben bereits 2003 begonnen, die Entwicklung erneuerbarer Energien zu fördern. So sind Paschinjans Ambitionen wohl auch weniger auf die Dringlichkeit der Klimakrise zurückzuführen als vielmehr – wie bei seinen Vorgängern – auf die jüngste Geschichte und die geopolitische Situation Armeniens.
Spricht man über diese Lage mit Armeniern, hört man oft Variationen derselben Aussage: "Armenien ist ein kleines Land mit begrenzten Ressourcen."
Denn im Gegensatz zu seinem östlichen Nachbarn Aserbaidschan verfügt das Binnenland über keine eigenen fossilen Ressourcen wie Öl oder Gas, um eine stabile und unabhängige Energieversorgung zu gewährleisten. In der jüngsten Vergangenheit hat Armenien wegen des Mangels an solchen Ressourcen eine "dunkle" Phase erlebt, die die Politik bis heute beeinflusst.
Im Jahr 1988, kurz vor dem Fall der Sowjetunion, forderte ein verheerendes Erdbeben im Nordwesten der damaligen Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik mindestens 25.000 Todesopfer. Die Tschernobyl-Katastrophe zwei Jahre zuvor im Hinterkopf, beschloss der Chef der sowjetischen Führung Michail Gorbatschow, das armenische Kernkraftwerk Mezamor, das nur 100 Kilometer vom Epizentrum des Erdbebens entfernt lag, kurzfristig stillzulegen.
Schwere Energiekrise vor 25 Jahren
Damals war Armenien noch an das transkaukasische Stromnetz angeschlossen und erhielt Gas und Öl aus Aserbaidschan, um die Schließung von Mezamor auszugleichen. Nach der Auflösung der Sowjetunion wurden die begrenzten heimischen Energiequellen jedoch zu einem echten Problem.
Ende 1991 erreichten die Spannungen um Berg-Karabach, ein umstrittenes Gebiet zwischen dem frisch unabhängigen Armenien und Aserbaidschan, einen Höhepunkt. Aserbaidschan, und später die verbündete Türkei, schlossen ihre Grenzen und verhängten ein Energieembargo gegen Armenien.
Dies wiederum führte zu einer schweren Energiekrise, die bis 1995 andauerte, als Mezamor schließlich notgedrungen reaktiviert wurde. In dieser Zeit brach die armenische Industrie zusammen, das Bruttoinlandsprodukt sank um mehr als 50 Prozent und auch die Treibhausgasemissionen gingen um mehr als 70 Prozent zurück – und blieben seitdem stabil.
Auf Nachfrage erinnern sich die Armenier noch ungläubig an diese Zeit und erzählen davon, wie sie nur ein bis zwei Stunden am Tag Strom nutzen konnten und oft zu Kerzen griffen, um ihre Wohnungen nachts zu beleuchten.
Die soziale Seite
Die Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan sind bis heute geschlossen. Tatsächlich ist die Energieversorgung Armeniens weitgehend abhängig von Erdgas aus Russland, das über eine Pipeline durch Georgien transportiert und in thermischen Kraftwerken in Strom umgewandelt wird.
Auch die meisten Autos im Land werden mit Erdgas betrieben, und ein Drittel der Importe wird in Häusern zum Heizen genutzt. Im Jahr 2016 konnte Armenien nur 34 Prozent seines Energiebedarfs aus heimischen Energiequellen decken.
Auch wenn die Energiekrise des Landes Anfang der 1990er Jahre heute in den Köpfen der Armenier nicht mehr allzu präsent sein mag, hat die Energiefrage als solche immer noch soziale Sprengkraft.
Beispielsweise kündigten die Betreiber des armenischen Stromnetzes, das sich größtenteils im Besitz russischer Staatsunternehmen befindet, im Juni 2015 eine Erhöhung der Strompreise um mehr als 17 Prozent an. Daraufhin gingen Tausende von Armeniern vor allem in Jerewan bei den sogenannten "Electric Yerevan"-Protesten auf die Straße.
Nach einer Woche Protest und einer brutalen Reaktion der Sicherheitskräfte wurde die Preiserhöhung ausgesetzt und das armenische Stromnetz an den armenisch-russischen Oligarchen Samwel Karapetjan verkauft.
Die Abhängigkeit von Russland und die soziale Frage zeigen sich auch heute noch. So befindet sich Paschinjan ständig in schwierigen Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über Gaspreise, nachdem diese im Januar 2019 um zehn Prozent erhöht worden waren.
Energiearmut in jedem dritten Haushalt
Die Proteste in Jerewan spiegelten jedoch ein größeres sozial-ökonomisches Problem im Land wider: die weit verbreitete Energiearmut. Rund 30 Prozent der Bevölkerung des Landes gelten als energiearm, da sie mehr als 50 Prozent des Familieneinkommens für Energie und Heizen aufwenden müssen.
Mit einem Durchschnittseinkommen von umgerechnet rund 360 Euro geben armenische Familien im Monat oft mehr als 90 Euro allein für Wärme aus. Oft heizen sie nicht die ganze Wohnung, sondern nur die Gemeinschaftsräume.
Vor allem in den ländlichen Gebieten führt dies dazu, dass ärmere Familien nicht mit teurem Gas, sondern mit billigem Holz heizen und so die ohnehin hohe Abholzungsrate erhöhen.
Aus all diesen Gründen – Armeniens Mangel an eigenen fossilen Ressourcen, seine Geschichte der Energieunsicherheit und seine sozioökonomischen Probleme wie Energiearmut – haben armenische Regierungen ein großes Interesse an der Diversifizierung der Energieversorgung, gerade durch erneuerbare Energien.
Gleichzeitig ist der Energiesektor der mit Abstand größte Verursacher von Treibhausgasen – im Jahr 2012 waren es 70 Prozent der landesweiten Emissionen.
In Anbetracht dessen ließen sich hier drei Fliegen mit einer Klappe schlagen: der Klimaschutz, die Lösung sozialer Probleme und das nationale Sicherheitsinteresse.
Möglichkeiten und Grenzen der erneuerbaren Energien
Der Parlamentsabgeordnete Mikajel Soljan, der im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten sitzt, bestätigt nicht nur das Interesse des Landes an erneuerbaren Energien, sondern auch die Gefahren durch den alten Kernreaktor Mezamor, den die Europäische Union seit Jahren am liebsten endgültig abgeschaltet sehen würde.
Auf die Haltung der EU angesprochen, macht Soljan jedoch auch klar, dass die Armenier keine andere Wahl haben: Sie können entweder Mezamor am Laufen halten oder in die dunklen Tage der Energieknappheit zurückzukehren, solange es keine massiven Finanzierungshilfen für erneuerbare Energien gibt.
Soljans Argument spiegelt sich in Bezug auf den Klimaschutz auch im ersten zweijährlichen Aktualisierungsbericht Armeniens zur UN-Klimakonvention wider, in deren Rahmen das Paris-Abkommen 2015 unterzeichnet wurde.
Die Prognosen des Berichts stützen sich auf einen neu zu errichtenden Kernreaktor, der bis 2030 etwa 63 Prozent der Emissionsreduktion im Energiesektor leisten soll.
Astghine Pasojan, Ökonomin bei der Energy Saving Foundation, steht den ehrgeizigen Solarenergie-Plänen auch eher skeptisch gegenüber. Ihrer Meinung nach wäre neben einem neuen Kernreaktor ein stärkerer Fokus auf die Energienachfrage kostengünstiger, um Emissionen kurzfristig zu reduzieren.
So wurden zum Beispiel die meisten Wohnblöcke in Armenien zu Sowjetzeiten gebaut, als Energie billig und ausgiebig verfügbar war. Diese Wohnungen energieeffizienter zu machen könnte einen großen Beitrag zur Reduzierung der Energienachfrage leisten: In einem UN-Pilotprojekt wurde ein Jerewaner Mehrfamilienhaus wärmegedämmt, was zu 58 Prozent Energieeinsparung geführt und die Kosten für die Bewohner um 60 Prozent gesenkt hat.
Grüne Roadmaps für Kommunen
Trotz ihrer Skepsis sieht Pasojan mittel- und langfristig großes Potenzial in den erneuerbaren Energien, um den Gasbedarf zu senken. So hilft sie Kommunalverwaltungen bei der Anfertigung von "Green Roadmaps" – lokalen grünen Entwicklungsplänen –, die oft Zuschüsse statt Kredite von internationalen Geldgebern erhalten.
Öffentliche Ökostromprojekte könnten es den Kommunen zum Beispiel ermöglichen, öffentliche Gebäude mit günstigem Strom zu versorgen, Arbeitsplätze zu schaffen und ihr Budget für eigene Entwicklungsprojekte zu verwenden, statt davon Gasrechnungen zu bezahlen.
Was den Übergang Armeniens zu erneuerbaren Energien betrifft, ist zumindest eines klar: Es wird viel Geld benötigt. Ob in Form von externen Investitionsfonds der EU, als Zuschüsse von Entwicklungsbanken oder sogar aus einem globalen Green New Deal wie ihn unlängst die UN-Entwicklungskonferenz Unctad vorgeschlagen hat – es sind die reichen Länder, die die notwendigen Investitionen tätigen müssen.
Hier gibt es schon ein paar gute Anzeichen. Die Europäische Investitionsbank EIB hat kürzlich eine neue Kreditvergabepolitik beschlossen, die vorsieht, die Finanzierung fossiler Brennstoffe bis 2021 einzustellen und Investitionen zur Unterstützung der Energiewende außerhalb der EU zu erhöhen.
Auch das neue EU-Nachbarschaftsinstrument NDICI, über das zurzeit im Rahmen des nächsten EU-Haushalts verhandelt wird, zielt darauf ab, Investitionen und Maßnahmen stärker auf den Klimaschutz auszurichten.
Zu guter Letzt bergen die Diskussionen über die Zukunft der sogenannten Östlichen Partnerschaft, an der Armenien und fünf weitere Länder im Osten Europas beteiligt sind, das Potenzial für größeren Ehrgeiz zur Bewältigung der Klimakrise.
Eines ist jedoch sicher: In Armenien besteht ein vielschichtiges Interesse daran, den Übergang zu erneuerbaren Energien schnellstmöglich zu vollziehen.