Die Sicherheitshülle eines Atomreaktors ist ein elementares Bauteil. Sie soll im Ernstfall verhindern, dass radioaktive Stoffe nach außen dringen. Doch im dritten Reaktor des Atomkraftwerks Mochovce in der Slowakei musste tausendfach an der Hülle nachgebohrt werden, weil die ursprünglich verwendeten Halterungen für den tonnenschweren Dampferzeuger zu schwach waren.
Dabei wurden auch sensible Teile des Reaktors angebohrt. Bei einer öffentlichen Begehung im vergangenen November bestätigte ein Mitarbeiter des Betreibers, der Slowakischen Elektrizitätswerke (SE), dass in zwei Fällen Notfall-Entwässerungsrohre und in einem weiteren Fall Belüftungsrohre angebohrt worden waren. In einem Protokoll der slowakischen Atomaufsicht ÚJD sind die Aussagen des SE-Mitarbeiters festgehalten.
Auch die Bundesregierung kennt das Protokoll. Das bestätigt das zuständige Bundesumweltministerium in seiner Antwort auf eine schriftliche Frage der atompolitischen Sprecherin der Grünen im Bundestag, Sylvia Kotting-Uhl, die Klimareporter° vorliegt. Grund zur Beunruhigung oder zum Einholen weiterer Informationen über das Bauvorhaben in dem EU-Land sieht die Bundesregierung aber offenbar nicht.
In seiner Antwort schreibt das Umweltministerium, nur dem ÚJD lägen alle nötigen Informationen vor, "um die Richtigkeit der Aussagen der im Protokoll aufgeführten Sachverhalte zu bestätigen und eine sicherheitstechnische Bewertung vornehmen zu können". Dabei hat die slowakische Atomaufsicht das Protokoll selbst veröffentlicht.
"Die Beschädigung eines Notkühlsystems beim Weiterbau der ohnehin überalterten AKW-Blöcke Mochovce 3 und 4 ist keinen Briefwechsel wert", wundert sich Kotting-Uhl. Die Bundesregierung unterschätze das Risikopotenzial der Inbetriebnahme. Sie müsse jetzt endlich ihr Engagement auf das österreichische Niveau erhöhen und sich auch bilateral für einen europäischen Atomausstieg einsetzen, fordert die grüne Atompolitikerin.
Österreich macht Druck gegen Mochovce
Während sich Deutschland in Zurückhaltung übt und darauf verweist, dass die Atomaufsicht in der EU Sache der Mitgliedsstaaten ist, setzt sich Österreichs Regierung schon länger für einen Atomausstieg in Europa ein. Weil das AKW Mochovce nur rund einhundert Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt ist, hatte auch Bundeskanzler Sebastian Kurz Sicherheitsbedenken mit Blick auf die Blöcke 3 und 4 geäußert.
Am atomkritischen Kurs will auch die neue türkis-grüne Regierung in Österreich festhalten. "Die Bundesregierung setzt sich entschieden und mit Vehemenz gegen die Inbetriebnahme der slowakischen Reaktoren Mochovce 3 und 4 und für eine erneute Umweltverträglichkeitsprüfung ein", heißt es in dem Regierungsprogramm, das die Koalition aus der konservativen ÖVP und den Grünen Anfang des Monats vorgestellt hatte.
Neben den bereits bekannten Mängeln am AKW Mochovce sind inzwischen weitere öffentlich geworden. "Uns und auch slowakischen Politikern wurden von einem Whistleblower Besprechungsprotokolle vom November 2011 zugespielt, die von der Notwendigkeit des Austauschs von 454 Kilometern Signalkabel auf der Mochovce-Baustelle berichten", sagt Reinhard Uhrig, Politikchef des österreichischen Umweltverbandes Global 2000. Davon müssten 54 Kilometer in Reaktor 3 sowie 400 Kilometer in Reaktor 4 ersetzt werden.
Wegen der falsch verlegten Kabel sei es beim Reaktor-Heißtest im vergangenen Jahr zu Störsignalen zwischen Strom- und Steuerkabeln gekommen. Weil die Schutzsysteme ausfielen, ließen sich sicherheitsrelevante Anlagen nicht starten.
"Diese technisch ungeeigneten Kabel hätten natürlich nie verlegt werden dürfen", sagt Uhrig. Der Fehler hätte der Atomaufsicht ÚJD auch schon lange auffallen müssen, nicht erst knapp vor Betriebsbeginn. "Wir fordern eine lückenlose Überprüfung der gesamten Baustelle durch unabhängige Experten der IAEO, nicht nur eine stichprobenartige Einschau in wenigen Tagen, wie zuletzt im Rahmen der Osart-Mission geschehen."
Im November war ein Expertengremium der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) mehrere Tage in Mochovce. Ziel einer solchen IAEO-Mission ist es aber, die Slowakei bei der Inbetriebnahme des Reaktors zu unterstützen, nicht, die Sicherheit zu kontrollieren.
Europäische AKW-Renaissance unter Klimaschutz-Label?
Die Slowakei will den Anteil der Atomkraft an der Stromversorgung deutlich erhöhen, bis 2030 soll er auf 65 Prozent steigen. 2018 waren es 55 Prozent.
Doch auch die Nachbarländer wollen mehr Atomstrom. Die Tschechische Republik will ihren Strombedarf bis 2040 zu 49 bis 58 Prozent aus Atomkraftwerken decken. Dazu sollen die Standorte Temelín und Dukovany ausgebaut werden. Aus Sicht von Atomkritikern sind beide Anlagen seit Jahren störanfällig und veraltet. Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš will sich beim Ausbau der Atomkraft im Zweifelsfall über geltendes EU-Recht hinwegsetzen.
Polen liebäugelt ebenfalls mit dem Bau eines Atomkraftwerks. Bislang beruht die Stromversorgung dort zu mehr als zwei Dritteln auf Kohle. "In Osteuropa startet die Renaissance der Atomkraft und die Bundesregierung schaut weg", sagt Grünen-Politikerin Kotting-Uhl. Doch nach dem Atomausstieg in Deutschland drohe eine Welle brüchiger grenznaher AKW-Neubauten.
Weil sich die Mitgliedsstaaten der EU unlängst darauf verständigt hatten, bis 2050 klimaneutral zu werden, hoffen etliche Atombefürworter auf ein Revival der umstrittenen Energieform. Tschechien, Ungarn und Frankreich fordern, dass die Atomkraft eine wichtige Rolle beim Klimaschutz spielen müsse. Atomenergie dürfe nicht aus der EU-Förderung ausgeschlossen werden.
In der vergangenen Woche hat sich das Europaparlament gegen eine besondere Rolle der Atomenergie beim Klimaschutz ausgesprochen. Die deutschen EU-Abgeordneten von CDU, CSU und AfD stimmten aber fast geschlossen dafür. Das Votum ist allerdings nicht bindend.