Man stelle sich vor: Einer der größten deutschen Braunkohletagebaue – Welzow-Süd in der Lausitz, Jahresförderung knapp 16 Millionen Tonnen – würde aus dem südlichen Brandenburg ins Dreiländereck von Polen, Tschechien und Deutschland verlegt. Städte wie Zittau oder Hrádek nad Nisou wären nur wenige Kilometer von der Abbaukante entfernt.
Die Orte und Zehntausende Einwohner müssten damit leben, dass der Riesentagebau nicht, wie es inzwischen im deutschen Kohleausstieg vereinbart ist, spätestens 2038 dichtgemacht wird, sondern bis zum Jahr 2044 betrieben und sogar noch erweitert werden soll.
In dieser Lage befinden sich die Menschen im Dreiländereck, seit die polnische Regierung die Konzession für den Tagebau Turów – Jahresförderung über 16 Millionen Tonnen – im März 2020 um zunächst sechs Jahre verlängerte. Langfristig soll der Tagebau noch bis 2044 Kohle abbauen und dazu noch tiefer in die Erde gebaggert werden – statt 260 künftig 300 Meter.
Dagegen wehren sich die besonders stark betroffenen Tschechen. Ihnen wird durch den riesigen Abbautrichter, der durch das Trockenlegen des Tagebaus entsteht, buchstäblich das Grundwasser abgegraben, von anderen Umweltfolgen wie Staub ganz abgesehen. Im Februar dieses Jahres reichte die tschechische Regierung deswegen Klage am Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein.
Grund für die Klage ist, dass Polen bei der Verlängerung des Abbaus gegen die EU-Richtlinie zur grenzüberschreitenden Prüfung der Umweltverträglichkeit verstoßen habe. Auch sei der Öffentlichkeit der Zugang zu Informationen verwehrt worden sein. Ergänzend zur Klage reichte die Regierung in Prag auch einen Antrag auf einstweilige Verfügung ein.
Gericht: Polen verstieß eindeutig gegen EU-Recht
Diesem Antrag gab – für viele unerwartet – der Europäische Gerichtshof am letzten Freitag statt. Das Gericht erließ eine einstweilige Anordnung, laut der Polen den Braunkohleabbau im Dreiländereck bei Turów sofort einstellen muss.
Für den klaren Entscheid spricht, dass Polen nach Auffassung des Gerichts übergangsweise ganz offensichtlich bei der Sechs-Jahres-Genehmigung auf die vorgeschriebene Umweltverträglichkeitsprüfung verzichtet und damit eindeutig gegen EU-Recht verstoßen hat. Zudem wirke sich eine Fortführung des Tagebaus "mit hoher Wahrscheinlichkeit" negativ auf den Grundwasserspiegel in Tschechien aus.
Da half auch nicht, dass Polen bis 2023 eine sogenannte Dichtungswand bauen will, um den Abfluss des Grundwassers aus Tschechien zu stoppen. Das Gericht legt dieses Projekt sogar als eine Art Eingeständnis Polens für die gravierenden Wasserprobleme aus.
Dass der Eilantrag Erfolg haben würde, hatten selbst die tschechischen Kläger kaum erwartet. Wenig überraschend allerdings folgte die kohlefreundliche und EU-skeptische polnische Regierung dem Urteil nicht und lässt den Tagebau sowie das gleichnamige Kraftwerk bislang weiterlaufen.
Den politischen Druck, den das Urteil ausübt, kann die polnische Regierung allerdings nicht einfach beiseiteschieben. Am Freitag vor Pfingsten habe die polnische Regierung noch angekündigt, die Entscheidung zu ignorieren, sagt Kerstin Doerenbruch von Greenpeace.
Nach Pfingsten werde nun suggeriert, es könne mit der tschechischen Seite eine finanzielle Einigung geben. "Das wurde jetzt vom tschechischen Umweltministerium an die Bedingung geknüpft, erst einmal die einstweilige Verfügung umzusetzen", erklärt Doerenbruch.
Tatsächlich trafen sich am gestrigen Dienstag, wie das Umweltministerium in Prag mitteilte, Vertreter beider Länder. Es sei darüber gesprochen worden, unter welchen Bedingungen Tschechien bereit wäre, die Klage gegen Polen zurückzuziehen.
Nach den Angaben beharrte Tschechien darauf, dass Polen den Spruch des EU-Gerichtshofs zunächst respektieren müsse. Anderenfalls wolle man bei Gericht ein Bußgeld beantragen. Des Weiteren verlangt Tschechien für das Zurückziehen der Klage Garantien, dass Polen die Auswirkungen des Bergbaus auf die Tschechische Republik minimiert und kompensiert. Das könne formal in einem zwischenstaatlichen Abkommen geschehen.
Ob es zu so einer Einigung kommt, ist vorerst offen. Kerstin Doerenbruch, die sich seit Jahren für einen europäischen Kohleausstieg bis 2030 einsetzt, hält die einstweilige Verfügung des EuGH, den Braunkohletagebau wegen Wassermangels auf tschechischer Seite zu unterbrechen, für wegweisend. "Das Gericht stellt Umweltbelange vor monetäre Interessen."
Mangelndes Engagement deutscher Politik
Eines ist der Berlinerin Doerenbruch wie auch den Umweltschützern in der sächsischen Region seit Langem ein Dorn im Auge: das mangelnde Engagement der deutschen Politik gegen den Kohletagebau.
Lediglich die Stadt Zittau hatte zusammen mit einzelnen sächsischen Bürgern und Verantwortlichen Anfang des Jahres bei der EU-Kommission Beschwerde gegen die Fortführung des Tagebaus Turów eingereicht.
In einem offenen Brief hatten im März mehrere Umweltverbände den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) aufgefordert, die Klage Tschechiens zu unterstützen. Sachsen solle sich gegenüber der Bundesregierung für einen gemeinsamen Rechtsweg vor dem Europäischen Gerichtshof einsetzen. Die Einhaltung europäischer Umweltgesetze liege auch im Interesse des Freistaates und seiner Bürger.
Wenn man sieht, wie nahe der Tagebau Turów an die Stadt Zittau heranreicht, kann man das eigentlich nur gut und richtig finden. Für Kerstin Doerenbruch ist klar: "Wenn Deutschland nicht der tschechischen Klage betritt, dann wird Polen keine Verantwortung für die deutschen Umweltschäden übernehmen."
Laufzeiten der Tagebaue bis 2038 oder 2044 sind für Doerenbruch ohnehin nicht akzeptabel. "Wir benötigen einen Kohleausstieg spätestens 2030, nicht nur in Polen, sondern auch in Deutschland."