Junges Paar auf einem Fahrrad, sie sitzt quer auf dem Gepäckträger, im Hintergrund viele Fahrräder am Straßenrand.
Fahrradkultur in den Niederlanden: Warum nicht überall? (Foto: Chris Bruntlett; aus "Building the Cycling City")

Klimareporter°: Herr Bruntlett, in Deutschlands Städten sind Radwege meist auf die Straßen gemalte Radstreifen. Sie haben sich fünf Städte in den Niederlanden angeschaut. Wie sieht dort die Radinfrastruktur aus?

Chris Bruntlett: In den Niederlanden sind viele Radwege von der Straße physisch getrennt. Wo das nicht möglich ist und Radfahrer die Straße nutzen, dürfen Autos nur Tempo 30 fahren. Die Idee dahinter ist, Radfahren attraktiv für alle zu machen. Für den fünfjährigen Enkel muss es genauso gut funktionieren wie für die 80-jährige Großmutter. Das ist der Anspruch, dahinter fallen die Niederlande nicht mehr zurück.

In den Niederlanden trägt fast kein Radfahrer einen Helm. Warum?

Weil das Radfahren dort sicher ist. Deshalb trägt weniger als ein Prozent einen Helm. Radfahren soll bequem sein und Spaß machen. Nicht der Helm macht das Radfahren sicher, sondern klug gestaltete Straßen und Kreuzungen. Und weil so viele Menschen dort Rad fahren, überwiegen die gesundheitlichen Vorteile mögliche Risiken bei Weitem.

Wie sieht eine für Radfahrer sichere Kreuzung aus?

Von der Straße physisch getrennte Radwege reichen dafür nicht aus. Wichtig ist zum Beispiel, dass die – in den Niederlanden rote – Spur des Radweges nicht nur über die Kreuzung geführt wird, sondern auch leicht angehoben ist. Dadurch biegen Autofahrer sehr viel aufmerksamer ab. Menschen machen Fehler. Die Niederländer bauen ihre Straßen aber so, dass die Folgen solcher Fehler nicht länger tödlich sind.

In Berlin sind in diesem Jahr schon sechs Radfahrer durch Kollisionen mit Lkw – meist, wenn diese abbiegen – ums Leben gekommen.

Das passiert auch in den Niederlanden, aber viel seltener als in Deutschland. Gegen solche Unfälle würden sichere Kreuzungen und Abbiegeassistenten helfen.

Noch besser ist es, in den Städten die schweren Laster gleich durch Lastenräder zu ersetzen. Auch das ist in den Niederlanden ausgeprägt und die Städte geben Zuschüsse für deren Anschaffung. Logistik-Dienstleister wie DHL oder UPS steigen in den Trend ein, weil Lastenräder nicht im Stau stecken bleiben und ihr Betrieb auch nur halb so viel wie der eines Lkw kostet.

Foto: Christoph Prevost

Zur Person

Chris Bruntlett studierte Architektur im kanadischen Toronto. Mit seiner Frau Melissa gründete er in Vancouver Modacity. Die Agentur unterstützt Behörden und Unter­nehmen multimedial bei der Verbreitung von "Fahrrad-Lifestyle" und anderen "gesunden, freudvollen, einfachen Mobilitäts­formen".

Die Radinfrastruktur in den Niederlanden entstand auch nicht über Nacht. Wie ist das Land dahin gekommen?

Man hat das Radfahren einfach gemacht und die Autos entschleunigt. In dem vergleichsweise kleinen Land wurden 35.000 Kilometer vollständig von der Straße getrennte Radwege gebaut. Und man gibt mit 30 Euro pro Kopf und Jahr mehr als fünfmal so viel für gute Radinfrastruktur aus wie Berlin oder Stuttgart.

Aber wie kam es zu dieser Entwicklung?

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele zerbombte Städte Europas neu aufgebaut – in den allermeisten Fällen einseitig für die Nutzung durch Autos. In den Niederlanden war diese Entwicklung nicht ganz so schlimm. Doch auch dort nahm der Verkehr immer mehr zu und forderte viele Tote, darunter viele Kinder. In den 1970er Jahren begannen die Niederländer, sich dagegen zu wehren.

Wie übertrug sich das in die Politik?

Die Zivilgesellschaft meldete sich zu Wort. Die Bürger forderten ein Umdenken von ihren Politikern und gingen mit drastischen Slogans wie "Stop de kindermoord!" auf die Straße. Das baute sich über die Jahre auf.

Die Schlagkraft kam von der Breite des Bündnisses. Es waren nicht nur Radfahrer, die mehr Radwege forderten. Am Ende war es eine breite Allianz aus Umweltschützern, Ärzten, Eltern, Lehrern, Radfahrern und Städteplanern, die für lebenswertere und fröhlichere Städte kämpften.

Verkehrsforscher sagen: Gute Radwege allein reichen nicht aus, um mehr Menschen dazu zu bewegen, das Auto stehenzulassen.

Sind Sie schon mal mit der Bahn von Deutschland nach Holland gefahren? Den ersten niederländischen Bahnhof erkennen Sie daran, dass – anders als in Deutschland – dort Hunderte von Fahrrädern parken. Die Niederländer haben begriffen, dass Räder allein keine Autos ersetzen, ebenso wenig ein guter Bus- und Bahnverkehr. Aber kombinieren wir beide – Rad mit Bus und Bahn – sind sie unschlagbar effektiv und bequem. Und dann nimmt der Bedarf für Autos in den Städten rapide ab.

Lässt sich der Erfolg der Niederlande kopieren?

"Building the Cycling City"

Vor acht Jahren verkauften Melissa und Chris Bruntlett ihre beiden Autos. Seitdem radelt die vierköpfige Familie durch Vancouver an der Westküste Kanadas. Das Paar fing an, über seine Erfahrungen zu bloggen. Bald hörten die beiden, wie einfach das Radfahren in Holland sei. Um es selbst zu erleben, besuchten sie fünf niederländische Städte und testeten die Fahrradinfrastruktur. Am Ende hatten sie genug Material, um ein Buch zu schreiben. Kürzlich erschien "Building the Cycling City" über das Erfolgsgeheimnis der niederländischen Fahrradkultur und darüber, wie die dortigen Erfahrungen auf andere Länder und Städte angewendet werden können.

Die nüchterne Erkenntnis ist, dass es die eierlegende Wollmilchsau auch in den Niederlanden nicht gibt. Auch dort ist jede Stadt anders, jede hat ihren eigenen Weg gefunden. Und man braucht einen langen Atem. Die Erfahrung zeigt, dass die Bürger sich einmischen müssen, wenn sie etwas verändern und einer Mobilität den Vorrang geben wollen, die nicht mehr das Auto ins Zentrum aller Überlegungen stellt.

Das erleben wir gerade in Deutschland. In Städten wie Bamberg, Darmstadt und Stuttgart fordern Bürger per Radentscheid die Politiker zum Umsteuern auf.

Richtig so. Demokratie ist kein Zuschauersport. Man muss sich einmischen. In den Niederlanden sind viele der Aktivisten selbst in die Politik gegangen. Deshalb wurde Groningen zu einer der weltbesten Fahrradstädte.

Und wir tun gut daran, nicht abzuwinken, wenn 20- und 30-Jährige in die Politik wollen. Wir brauchen ihre Impulse, wenn wir neue Ideen verwirklichen wollen.