Alte Bahnstrecke, schon ein wenig zugewuchert.
Nachdem der Schienenverkehr über Jahrzehnte heruntergewirtschaftet wurde, soll es jetzt wieder aufwärtsgehen – kann das klappen? (Foto: Antoine Beauvillain/​Unsplash)

Ob Künzelsau in Baden-Württemberg, Wermelskirchen in Nordrhein-Westfalen oder Limbach-Oberfrohna in Sachsen – etliche Städte mittlerer Größe haben keinen Anschluss ans Bahnnetz mehr. In rund 120 sogenannten Mittelzentren in Deutschland hält im Jahr 2020 kein Zug. Eine Reise zu oder von diesen Orten ist mit dem öffentlichen Verkehrsmitteln nur per Bus oder Anrufsammeltaxi möglich.

Die Anbindung ans Schienennetz lohnt durchaus: Beinahe 1,8 Millionen Bundesbürger:innen hätten damit die Chance auf Bahnfahrten von ihrem Heimatort aus – zumal in beinahe allen jener Orte noch Eisenbahntrassen vorhanden sind.

Die Mittel- und Oberzentren in Deutschland ans Gleisnetz anzubinden ist Teil eines Vorschlags vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und der Allianz pro Schiene. Die beiden Verbände wollen 238 Bahnstrecken mit über 4.000 Kilometern Länge reaktivieren. Den Zugbetrieb dort wiederaufzunehmen soll drei Millionen Menschen das Bahnfahren von ihrer Gemeinde oder Kommune aus ermöglichen.

"Wenn die Eisenbahn das Verkehrsmittel des 21. Jahrhunderts werden soll, dann müssen wir das ganze Land im Blick haben und nicht nur die Großstädte und Ballungsräume oder den Fernverkehr", findet Jörgen Boße, Geschäftsführer der Usedomer Bäderbahn. Rund 70 Prozent der Deutschen lebten in Mittel- und Kleinstädten oder im ländlichen Raum.

"Für diese große Mehrheit der Bevölkerung benötigen wir effiziente und umweltfreundliche Angebote im Schienenverkehr", so Boße. Neben Klimaschutz geht es aus seiner Sicht bei der Reaktivierung von Bahnstrecken auch um die Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen.

Mit den reaktivierten Strecken sollen Defizite bei der Infrastruktur aufgefangen werden. Denn überall, wo Infrastruktur und Dienstleistungen in ländlichen Regionen zurückgebaut wurden, seien Menschen weggegangen. Ländliche Regionen verödeten.

"Das Strecken-Schrumpfen ist zu Ende"

Doch es muss nicht zwangsläufig so kommen, findet Boße. Der Bäderbahnchef kennt sich aus mit der Reanimation toter Strecken, seit den 1990er Jahren beschäftigt er sich damit.

Erfolgreich hat Boße auf Usedom die Wiederinbetriebnahme der stillgelegten Strecke zwischen Ahlbeck und Ahlbeck-Grenze vorangetrieben, seit 1997 rollen die Triebwagen auf dem Teilstück. Elf Jahre später überquerten die im Volksmund Ferkeltaxe genannten Züge dann die deutsch-polnische Grenze.

Mittlerweile ist die Ostseeinsel auch wieder ans Festland angeschlossen. "Wir haben gute Erfahrung gemacht, die Fahrgastzahlen liegen deutlich über den Schätzungen der Gutachten, die das Potenzial der zu reaktivierenden Bahnstrecke ermitteln sollten."

Als Boße für die Wiederaufnahme des Zugverkehrs auf Usedom stritt, handelte er gegen den damaligen Zeitgeist. Seit 1994 wurde der Personenverkehr deutschlandweit auf Schienenstrecken mit 3.600 Kilometern Länge eingestellt.

Nur 933 Kilometer Gleis wurden im gleichen Zeitraum reaktiviert. Immerhin rund hundert Kilometer davon entfielen auf das vergangene Jahr.

"Ich möchte noch nicht von einer Trendwende sprechen, aber das Schrumpfen der Bahnstrecken hat aufgehört", sagt Dirk Flege vom Verkehrsbündnis Allianz pro Schiene bei der Vorstellung des Vorschlags in Berlin. "Wir segeln auf einer Riesensympathiewelle", freut sich Flege. Bürgermeister, Landräte und Industrie- und Handelskammern wollten die Bahn zurück.

Die Kommunen sind aus Sicht der Verkehrsunternehmen nun gefordert, ihren Bedarf anzumelden. Mit dem neuen Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, das im vergangenen Jahr beschlossen wurde, würde der Bund die Kosten zu 90 Prozent tragen.

"Effektivster Weg für Klimaschutz im Verkehr"

Auch vor etwa einem Jahr hatten VDV und Allianz pro Schiene schon einmal eine Liste mit möglichen Streckenreaktivierungen vorgelegt. Wie später das Magazin Der Spiegel berichtete, prüfte eine Sondereinheit der Deutschen Bahn die Vorschläge der Verkehrsverbände.

Zudem kündigte die Bahn an, keine Stilllegungen mehr vorzunehmen und schon brachliegende Verbindungen wieder in Betrieb nehmen zu wollen. "Die Reaktivierung stillgelegter Schienenstrecken ist der beste Weg, um beim Klimaschutz im Verkehr rasche Erfolge zu erzielen", hieß es daraufhin bei der Allianz pro Schiene.

Damit die Wiederinbetriebnahme auch dem Klimaschutz nützt, sollen den Vorschlägen zufolge Strecken teils mit elektrischer Oberleitung, Züge mit Akku- oder Brennstoffzellentechnik ausgestattet werden.

In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich CDU und SPD vorgenommen, einen "Schienenpakt" zwischen Politik und Bahnwirtschaft zu schließen. Damit sollen sich die Fahrgastzahlen bis 2030 verdoppeln und mehr Güter auf der Schiene transportiert werden. Der Pakt wurde vergangene Woche besiegelt.

"Das Ziel, die Fahrgastzahlen bis 2030 zu verdoppeln, ist sehr ambitioniert", sagt Flege dazu. Er verweist auch auf die bis dahin angepeilte Steigerung des Schienengüterverkehrs auf 25 Prozent Marktanteil oder mehr – derzeit sind es 19 Prozent. Ohne die Wiederinbetriebnahme brachliegender Strecken seien die Regierungsziele nicht zu erreichen.

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