Jedem und jeder fällt es auf, es sind mehr Fahrräder auf den Straßen unterwegs als je zuvor. Kein Zweifel, Radfahren boomt. Gerade in Corona-Zeiten: Viele Menschen nutzen jetzt das Rad, um dem erhöhten Infektionsrisiko in Bussen und Bahnen zu entgehen.
Berlin beispielsweise zählte im letzten Juni 26 Prozent mehr Radverkehr als im Juni 2019, München schätzt das Plus auf 20 Prozent. In vielen Städten entstanden Pop-up-Radwege (und mussten teilweise wieder weichen).
Radtouren wurden zur beliebten Freizeitbeschäftigung. Zeitweise war die Nachfrage nach Rädern so hoch, dass der Handel sie kaum noch bedienen konnte, was auch an den gestörten Lieferketten durch Corona lag.
Der große Trend zum Rad hat aber nicht erst mit der Pandemie begonnen, zeigt eine heute veröffentlichte Studie, die das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gemeinsam mit dem Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule (IAT) in Gelsenkirchen im Auftrag der Fahrradwirtschaft vorgelegt hat.
Die Entwicklung zeigt schon länger nach oben. "Die Branche ist seit Jahren stark im Aufwind", sagt David Eisenberger vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV).
Doch was dieser Aufwind im Einzelnen bedeutet, wie viele Menschen die Branche beschäftigt und was für Umsätze sie macht, war bislang nicht klar. "Wir hatten jahrelang keine Zahlen", sagt Eisenberger. Die letzten Daten stammten von 2014. Diese Lücke hat die neue Studie nun geschlossen.
E-Bikes hängen E-Autos ab
Demnach arbeiteten 2019 rund 280.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und Selbstständige in der Fahrradwirtschaft in Deutschland (ohne Minijobs). Zum Vergleich: Im Bahnbereich arbeiten rund 270.000 Menschen, in der Autoindustrie rund 830.000.
Der mit Abstand größte Beschäftigungseffekt entfällt auf den Fahrradtourismus mit 204.000 Jobs, während die Kernbereiche Herstellung, Handel und Dienstleistungen auf 66.000 Beschäftigte kommen. Das ist ein Plus von 20 Prozent gegenüber dem Stand fünf Jahre zuvor.
"Gerade in strukturschwachen Regionen kann der Fahrradtourismus zu einem wichtigen Jobmotor werden", sagt Albert Herresthal vom unabhängigen Fahrradbranchenverband VSF. Die Studie unterstreiche, dass die Verkehrswende auch Jobs bringe und das Rad zentraler Teil der Lösung sei.
Auch beim Umsatz zeigt sich ein sehr deutlicher Aufwärtstrend. Er stieg zwischen 2013 und 2018 um 55 Prozent und liegt nun bei rund 38 Milliarden Euro. Im Vergleich zur Autobranche mit mehr als 400 Milliarden Euro Umsatz ist die Fahrwirtschaft damit aber nach wie vor ein Zwerg.
Allerdings: In einem Punkt hat das Rad das Auto mittlerweile überflügelt. 2019 wurden in Deutschland erstmals mehr E-Bikes als Diesel-Pkw verkauft – ein neuer Rekordwert. "Da zeichnet sich eine Wachablösung ab", sagt Wasilis von Rauch vom Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF).
E-Bikes stellen auch die Verkaufszahlen und Wachstumsraten von E-Autos locker in den Schatten. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der verkauften E-Bikes verzehnfacht. Die Studie schlussfolgert: "Die Elektrifizierung des deutschen Fahrzeugmarktes findet auf zwei Rädern statt."
Fachkräftemangel bremst Wachstum
Von den guten Zahlen leitet die Branche Forderungen an die Politik ab. "Wir erwarten eine langfristige Förderung", sagt David Eisenberger vom ZIV.
Zwar stünden mittlerweile mehr Mittel für den Radverkehr zur Verfügung, doch mit der Umsetzung hapere es noch. Gerade Kommunen müssten Klarheit darüber haben, dass Fördermittel auf längere Sicht fließen und nicht nur für wenige Jahre.
"Der öffentliche Raum muss neu geordnet werden", fordert Albert Herresthal vom VSF. Dem Radverkehr müsse mehr Platz eingeräumt werden und innerorts sei eine größere Angleichung der Geschwindigkeiten der verschiedenen Verkehrsteilnehmer erforderlich. "Die Politik muss mehr tun."
Immerhin macht die Branche auch Verbesserungen aus. "Lange Zeit wurde die Fahrradwirtschaft eher belächelt", sagt Herresthal. "Inzwischen merken wir, dass die Politik uns wichtiger nimmt." Für 2020 und 2021 erwarten die Verbände ein weiteres Wachstum, entsprechend dem der vergangenen Jahre.
Das Wachstum könnte sogar noch höher ausfallen, wenn es keinen Fachkräftemangel geben würde. "Der Mangel an Fachkräften ist ein Bremse", bestätigt Herresthal.
Die "Zukunftsbranche" Fahrradwirtschaft könnte also noch mehr Jobs schaffen – und die Verkehrswende noch mehr voranbringen. Die Studie soll in den kommenden Jahren fortgeführt werden.