1986 im Tagebau Espenhain bei Leipzig. Damals soll es in der DDR ungefähr 100.000 direkte Braunkohle-Arbeitsplätze gegeben haben. (Bild: Friedrich Gahlbeck/​ADN-Zentralbild/​Bundesarchiv/​Wikimedia Commons)

Wer sich mit Energie und Klima befasst, darf keine Zahlenphobie haben: 1,5-Grad-Ziel (Paris-Vertrag), COP 29 (der nächste Weltklimagipfel) oder 102 Millionen Tonnen (Braunkohleförderung in Deutschland 2023, Platz zwei in der Welt, Platz eins in Europa).

Bei der Braunkohle sprechen regierende Politikerinnen und Politiker immer noch gern über die Zahl der Arbeitsplätze, die der fossile Brennstoff bietet, gerade im Osten Deutschlands. Leider ist die Zahl der unmittelbar Beschäftigten in Tagebauen und Kraftwerken ziemlich gering.

Für das Jahr 2023 zählte der Braunkohle-Branchenverband Debriv an Beschäftigten in der Lausitz knapp 7.900 sowie im Revier Halle/​Leipzig rund 1.800, zusammen also um die 9.700.

In den drei Ost-Braunkohleländern Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt sind zusammen etwa 3,2 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Daran haben die 9.700 der Braunkohle einen Anteil von rund 0,3 Prozent.

Das Drittelprozent ist nun wirklich zu wenig, um politischen Lobbyismus für die Braunkohle zu rechtfertigen. Zu den direkt in der Braunkohle Beschäftigten werden deswegen traditionell noch jene zugeschlagen, die angeblich ihr Ein- und Auskommen haben, weil Kohleunternehmen Maschinen und Material kaufen, Löhne und Sozialabgaben zahlen.

Aber selbst kohlelobbyistische Studien kommen hier nur maximal auf den Faktor zwei: Ein Arbeitsplatz in der Braunkohle soll zwei weitere "induzieren", wie es studientechnisch heißt. Die Rechnung an sich ist schon fragwürdig, was hier aber nicht weiter thematisiert werden soll.

Jedenfalls werden üblicherweise rechnerisch aus den rund 10.000 direkten und 20.000 "induzierten" Arbeitsplätzen alles in allem 30.000, die irgendwie und irgendwo im Osten mit der Braunkohle zusammenhängen.

So eine Zahl ist politisch schon beeindruckender, erhöht aber den Braunkohle-Anteil an den erwähnten 3,2 Millionen Beschäftigten auch nur auf ein ganzes Prozentchen.

Aus eins mach zehn

Auch der SPD-Politikerin Ines Fröhlich müssen jüngst all diese Zahlen gefühlt recht niedrig vorgekommen sein. Wer mit dem Namen nicht viel anfangen kann: Fröhlich ist seit mehr als vier Jahren Staatssekretärin im Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr.

In dieser Eigenschaft war sie kürzlich vor die Presse getreten und hatte an der Seite von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) die prinzipielle Zustimmung der EU-Kommission zur Milliarden-Entschädigung für den Lausitzer Braunkohlekonzern Leag begrüßt.

Die offensichtliche Begeisterung über die frischen Milliarden ließ Fröhlich gleich eine ganz neue Dimension bei den Arbeitsplatzeffekten der Braunkohle aufmachen. Momentan seien noch hunderttausend Beschäftigte "unmittelbar in der Braunkohle aktiv tätig", erklärte die Staatssekretärin ins ministerielle Mikrofon.

Und noch höhere Zahlen bekam der erschreckte Redakteur zu hören, denn die Rednerin setzte wie gewohnt den Arbeitsplatz-Vermehrungsfaktor drauf. In weiteren die Braunkohle begleitenden Industriebereichen seien es zweihunderttausend beschäftigte Menschen, behauptete Fröhlich und zählte dann wortwörtlich zusammen: "Dreihunderttausend Menschen Zukunft zu geben, ist eine gute Botschaft."

Auch bei dieser maximal absurden Zahl zuckte die Staatssekretärin mit keiner Wimper. Niemand im Raum meldete Zweifel an. Auch später hob kein Faktenchecker die Hand, kein Betriebsrat oder Kohlegewerkschafter beschwerte sich, dass eine Staatssekretärin die ohnehin fragwürdige Beschäftigtenzahl mal eben so verzehnfachte.

Klar: Die 300.000 wurden auch nirgends gepostet. Was nicht in Social Media ist, existiert nicht.

Lobbyistische Studie altert zum "Erfahrungswert"

Man kann sich natürlich fragen, warum einer politischen Beamtin, die seit Jahr und Tag für Wirtschaft und Arbeit zuständig ist, so ein Klops nicht auffällt. Liest sie den Sprechzettel mit der inhaltlichen Zuarbeit vorher nicht? Schreibt den neuerdings gar eine künstliche Intelligenz?

Eine Richtigstellung vom Staatsministerium gab es auch nicht. Erst auf Nachfrage kommt von der Pressestelle des sächsischen Wirtschaftsministeriums die dürre Mitteilung, leider habe es einen Zahlenfehler gegeben und man bitte um Entschuldigung.

Korrekterweise seien es rund 10.000 direkt Beschäftigte in der Lausitz und in Mitteldeutschland, teilt die Pressestelle weiter mit und schickt die erwähnte Debriv-Aufstellung mit den 9.700 Beschäftigten mit.

Wie sich die knapp 10.000 dann auf 30.000 summieren – dafür hat die ministerielle Pressestelle keinen Beleg parat. Die "Sogwirkung", bei der jeder Arbeitsplatz in der Kohle zwei weitere schaffe, speise sich wie in anderen Branchen aus "Erfahrungswerten", wird nur mitgeteilt.

Dabei ist die hier fehlende Quelle in Fachkreisen gut bekannt. Die "Mutter" aller braunkohlelobbyistischen Studien erschien 2011 unter dem programmatischen Titel "Die Bedeutung der Braunkohle in Ostdeutschland" und stammt von der Consultingfirma Prognos, beauftragt von der Leag-Vorgängerin Vattenfall Europe und der im Raum Halle/​Leipzig tätigen Mibrag.

Die Studie machte damals auf Seite 26 aus 11.179 direkt Beschäftigten durch indirekte und induzierte Effekte insgesamt 33.500 – und kreierte so fast auf die Kommastelle genau den Faktor zwei. Was eben zu beweisen war und heute schon zu einem "Erfahrungswert" geadelt ist.

Von Hunderttausenden schrieben die Gutachter allerdings nichts. Solche Erfindungen bleiben dann doch allein der Politik vorbehalten.