Die Tage bis zum Jahreswechsel werden für die nordrhein-westfälische SL Naturenergie vermutlich ganz besondere sein. Noch vor dem letzten Tag des Jahres kann der Windparkprojektierer voraussichtlich zwei Vier-Megawatt-Windräder in Betrieb nehmen – bei Tönisvorst, einer rund 30.000 Einwohner zählenden Stadt, gelegen auf halbem Wege zwischen Düsseldorf und der Grenze zu den Niederlanden.
Den Weg für die Inbetriebnahme der beiden Windanlagen hat erst am Dienstag der Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfalen frei gemacht. Das Gericht wies, wie es mitteilte, eine Kommunalverfassungsbeschwerde der Stadt Tönisvorst gegen den im Juni 2018 ergangenen Regionalplan der Bezirksregierung Düsseldorf zurück.
Die Richterinnen und Richter halten damit die Festlegung eines Vorranggebietes für Windenergie auf dem Gebiet der Stadt Tönisvorst für verfassungsgemäß.
Die Vorgeschichte dieses Urteils ist, wie oft bei Rechtsstreitigkeiten, einigermaßen kompliziert. Im Kern geht es darum, dass Tönisvorst im Rahmen der städtischen Flächennutzungsplanung keine geeignete Vorrangfläche für Windenergie ausgewiesen hatte und zudem ausdrücklich eine andere geeignete Fläche, um die es jetzt vor Gericht ging, planerisch ausschloss.
An die Stelle der städtischen trat dann die überörtliche Planung in Gestalt der Bezirksregierung. Diese wies im Juni 2018 eine 13 Hektar große Fläche aus, die vorrangig für Windenergie genutzt werden soll und auf der jetzt SL Naturenergie die beiden Anlagen baut.
Auch der Kreis Viersen als letztlich zuständige Genehmigungsbehörde stimmte im Januar 2019 der windkräftigen Flächennutzung zu – und auch die Stadtverwaltung Tönisvorst hatte zu dem Zeitpunkt keine Einwände. Die Stadt hatte da allerdings auch wenig Spielraum, weil alle nötigen Genehmigungen für den Bau der Windkraftanlagen vorlagen – und wenn das so ist, kann eine Verwaltung nach hiesigem Recht nicht mehr wirklich Nein sagen.
Überörtliches Interesse am Ausbau erneuerbarer Energien
Die dementsprechend durch die Stadt erteilte "technische" Genehmigung wurde dem Bürgermeister später allerdings als taktischer Fehler vorgehalten – wohl auch ein Grund dafür, dass er bei der jüngsten Kommunalwahl sein Amt verlor.
Denn parallel zu dem verwaltungstechnischem Ablauf hatten mehr und mehr Bürger in und um Tönisvorst gegen die beiden neuen Windräder mobilisiert – zum Teil mit bekannten Argumenten wie einer kirchturmhohen Nabenhöhe, den Lärmemissionen und der Gesundheit der Bürger, aber auch mit einem möglichen Wertverlust von Immobilien und der "Sorge um ihre Kinder", wie regionale Medien berichteten.
Unter dem Eindruck der Proteste bekamen die Stadtoberen offensichtlich kalte Füße. Im April 2019 legte die Stadt schließlich Verfassungsbeschwerde ein. Die Festsetzung einer Windenergiezone im Regionalplan der Bezirksregierung sei verfassungswidrig, weil sie die Planungshoheit der Stadt verletze.
Dass es am Ende schwierig ist, die Verletzung einer Planungshoheit nachzuweisen, wenn gar nicht richtig geplant worden ist, kann man in der Mitteilung des Verfassungsgerichtshofs nachlesen. So weist das Gericht die Stadt darauf hin, das das beklagte Windvorranggebiet im Flächennutzungsplan der Stadt selbst "nur eine Fläche für die Landwirtschaft" darstelle. Eine solche Ausweisung stelle, geben die Richter zu Protokoll, "keine hinreichend konkrete Planung" dar.
Anders gesagt: Wer planerisch Äcker Äcker sein lässt, kann den Bau von Windanlagen darauf nicht verhindern, wenn auch die anderen Genehmigungshürden genommen werden. So bleibt auch ein angrenzendes Waldgebiet nach Auffassung des Gerichts und entgegen der Ansicht der Stadt "unangetastet". Jedenfalls werde der Erholungswert nicht nachhaltig gestört, stellt das Gericht fest.
Besonders interessant sind die Ausführungen des Verfassungsgerichts zum Thema Erneuerbare und Klimaschutz. So rechtfertige das überörtliche Interesse, den aus Gründen des Klima- und Umweltschutzes bereits in der Landesplanung verankerten Ausbau erneuerbarer Energien räumlich zu sichern, die regionalplanerische Festlegung auch in ihren Auswirkungen auf die kommunale Planungshoheit, schreibt das Gericht. Die Regionalplanung belaste hierbei die Stadt "nicht übermäßig".
"Keine Kommune kann sich wegducken"
Auf diesen Aspekt des Urteils legt auch der nordrhein-westfälische Landesverband Erneuerbare Energien (LEE) Wert. Der Rechtsspruch mache noch einmal deutlich, dass der Windenergie – als einem der wichtigsten Klimaschutzinstrumente – auch der notwendige Platz eingeräumt werden müsse, betont LEE-Geschäftsführer Christian Mildenberger.
"Keine Stadt oder Gemeinde kann sich bei der Energiewende wegducken, alle sind gefragt, ihren Anteil zu leisten. Und wenn die lokale Planung das nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt, ist es richtig, dass der übergeordnete Regionalplan den Zubau ordnet", ist sich Mildenberger sicher.
Für Mildenberger ist das Urteil auch für andere Kommunen ein deutlicher Fingerzeig: Der Windenergie müsse "substanziell Raum verschafft werden". Dieser Aufgabe dürfe sich niemand entziehen.
Der LEE-Geschäftsführer hofft, dass auch andere Regierungsbezirke durch das Urteil ermutigt werden, eigene Regionalpläne aufzustellen, die es der Windenergie ermöglichen, ihre Klimaschutzwirkung zu entfesseln. Nach Ansicht des Erneuerbaren-Verbandes werden für die Windkraft zwei Prozent der NRW-Landesfläche benötigt, derzeit seien es gerade einmal 0,8 Prozent.
Die Stadt Tönisvorst selbst nimmt das Urteil vorerst zur Kenntnis und beharrt verständlicherweise auf ihrer Sicht des Vorgangs. Es falle ihm schwer zu verstehen, warum das Land die Kommune zwinge, ausgerechnet an der ökologisch wertvollsten Stelle im gesamten Stadtgebiet eine Vorrangfläche für Windenergieanlagen auszuweisen, lässt sich der neue Bürgermeister Uwe Leuchtenberg (SPD) zitieren.
Die Stadt hatte insgesamt drei Verfahren gegen das Windprojekt angestrengt. Mit dem jetzigen Urteil des Verfassungsgerichts sind davon bereits zwei Klagen erfolglos geblieben. Übrig ist offenbar noch eine Anfechtungsklage gegen die bereits erteilte Genehmigung für die Windkraftanlagen.
Diese Klage soll vom Verwaltungsgericht abgewiesen worden sein. Die Stadt hat sich nach eigenen Angaben nun an das Oberverwaltungsgericht Münster gewandt. Die Verhandlung steht noch aus, kann den Start der beiden Windräder noch vor Jahresende wohl aber nicht verhindern.