Rauchendes Kohlekraftwerk Mundra aus der Ferne.
Adani-Kohlekraftwerk: Mit fossilen Profiten und den gewünschten Liberalisierungsgesetzen wollen indische Kohle- und Ölmagnaten in den Agrarsektor expandieren. (Foto: Ariane Wilkinson/​Flickr)

Neu-Delhi im Januar: Wer dieser Tage versucht, die indische Hauptstadt mit dem Auto zu erreichen, wird sich höchstwahrscheinlich auf einige Umwege einstellen müssen. Die Gegend um Neu-Delhi erlebt nämlich seit Wochen einen besonderen Lockdown: Zehntausende Bäuer:innen blockieren in einer Dauerbesetzung mehrere wichtige Autobahnzufahrten der Millionenmetropole.

In kürzester Zeit haben die Protestierenden ganze Zeltstädte aufgebaut. Große Gemeinschaftsküchen, die aus den Dörfern mit frischen Zutaten beliefert werden, sorgen für Verpflegung. Theatergruppen unterhalten die Menge, ein Museum erzählt die Geschichte der Bäuer:innenbewegung und in einem medizinischen Versorgungszentrum können Verletzungen behandelt werden.

In erster Linie demonstrieren die Bäuer:innen gegen eine Reihe von Gesetzesreformen, die den ohnehin gebeutelten indischen Landwirtschaftssektor weiter deregulieren würden. "Es scheint, als wolle die Regierung den zweitgrößten Agrarsektor der Welt dem globalen Kapital gefügig machen", fasst Subir Sinha die Lage zusammen, der an der Londoner SOAS-Universität zu sozialen Bewegungen in Indien forscht.

Die Öffnung des landwirtschaftlichen Sektors für den freien Markt steht seit Langem auf der Agenda wechselnder indischer Regierungen, die seit den neoliberalen Reformen von 1991 einen betont wirtschaftsfreundlichen Kurs verfolgten.

Wie die Umweltwissenschaftlerin Kanchi Kohli vom Centre for Policy Research in Neu-Delhi betont, wird auf vielen indischen Bauernhöfen schon lange nicht mehr für den lokalen Bedarf, sondern für den Weltmarkt produziert – beispielsweise Tomaten für Ketchup oder Kartoffeln für Chips.

Mehr Dürren und unberechenbarer Regen

Kohli fügt hinzu, dass die Gesundheit des indischen Agrarsektors unmittelbar von einer gesunden Umwelt abhängig ist. Die Verschärfung der seit Jahrzehnten spürbaren Klimakrise, von der die Landbevölkerung in Indien besonders betroffen ist, ist deshalb ein wichtiger Treiber der Proteste. 

Der Videojournalist und Klimaaktivist Aditya Singh, der die Proteste in sozialen Medien dokumentiert, erzählt, dass in vielen Teilen des Landes inzwischen regelmäßig Dürre herrscht. Unregelmäßige Niederschlagsmuster erschweren es den Bäuer:innen, ihre Ernten zu planen und die Erträge zu kalkulieren. Immer häufiger treten auch sogenannte "Western Disturbances" auf, Stürme, die in der Mittelmeerregion entstehen und in Indien zu Kältewellen und Überschwemmungen führen.

Porträtaufnahme von Mihir Sharma.
Foto: Uni Bayreuth

Mihir Sharma

ist Anthropologe an der Kultur­wissen­schaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth. In der Forschungs­gruppe "Anthropologie Globaler Ungleich­heiten" befasst er sich unter anderem mit neuen Organisations­formen sozialer Basis­bewegungen. Zurzeit begleitet er in Neu-Delhi die großen indischen Bauern­proteste.

Hinzu kommen Heuschreckenschwärme, für die die benachbarte Arabische Halbinsel durch den Klimawandel zu einer beliebten Brutstätte geworden ist. Erst im vergangenen Sommer erlebte Indiens Nordwesten ein "Schwarmageddon" – die schlimmste Heuschreckenplage seit über 30 Jahren zerstörte mehr als 50.000 Hektar Land und führte zu landesweiten Ernährungsengpässen.

Inmitten eines "perfekten Sturms" von Ernteausfällen und wachsenden Schuldenbergen sehen immer mehr Bäuer:innen in Indien keinen Ausweg mehr. In den vergangenen Jahren begingen Zehntausende Suizid.

Dem gegenüber steht eine rapide wachsende fossile Industrie, die das Land inzwischen auf vordere Ränge der weltweit größten Netto-Treibhausgasemittenten katapultiert hat – während der Pro-Kopf-Ausstoß im bevölkerungsreichen Indien, in dem bis zu 470 Millionen Menschen in Armut leben, vergleichsweise gering bleibt.

Fossile Magnaten expandieren in den Agrarsektor

Zu den bekanntesten Gesichtern der Fossilbranche gehören die gut vernetzten Magnaten Gautam Adani und Mukesh Ambani, die ihr Vermögen 2020 umgerechnet um sagenhafte 29 Milliarden Euro mehren konnten.

Ambani, der reichste Mensch Indiens, verdiente sein Geld, indem er das Öl- und Gasunternehmen seines Vaters, Reliance Industries, erfolgreich zum größten Wirtschaftskonglomerat des Landes ausbaute. Sein Freund und Geschäftspartner Adani wiederum ist Gründer und Geschäftsführer des größten privaten Kohlekonzerns Indiens, der Adani Group.

Unter der Regierung der rechtsnationalistischen Partei BJP unter Premier Narendra Modi, dem enge Beziehungen zu Adani nachgesagt werden, expandierte die Adani Group in zahlreiche weitere Geschäftsbereiche. Als die BJP-Regierung 2018 die Pläne zur Privatisierung von sechs großen indischen Flughäfen bekannt gab, sicherte sich die Adani Group auf einen Schlag alle sechs Aufträge und wurde so über Nacht zu einem der landesweit größten Flughafenbetreiber.

Ausgerechnet die Kohle- und Ölmilliardäre Ambani und Adani werden nun auch mit den neuen Landwirtschaftsgesetzen in Verbindung gebracht. Auf der Suche nach lukrativen Investitionsmöglichkeiten für ihr fossiles Kapital sollen sie die BJP um Premierminister Modi schon länger gedrängt zu haben, endlich den Agrarsektor des Landes zu öffnen.

Ambani, der seit Jahren Interesse an dem Sektor bekundet, hatte im Februar vergangenen Jahres die App Jiokrishi auf den Markt gebracht, die Lieferketten für Agrarerzeugnisse optimieren soll. Adani, der ebenfalls in den letzten Jahren zahlreiche Firmen im Agrarbereich gründen ließ, warb im Bundesstaat Punjab mit Anzeigen in Tageszeitungen für die unbeliebten Reformen.

Die engen Beziehungen zwischen der indischen Regierung und ihren wohlhabenden Industriellen sind den Demonstrant:innen nicht entgangen. Bei den Protesten wurden überall im Land Abbildungen der Milliardäre verbrannt. An mehreren Orten blockierten Aktivist:innen Ölpumpen der Ambani-Firma Reliance Oil. Im Punjab besetzen Bäuer:innen Silos der Adani Group und zerstörten mehr als tausend Telefonmasten des von Ambani gegründeten Mobilfunkanbieters Reliance Jio.

Unterstützung aus aller Welt

Unterstützung erhalten die Bäuer:innen auch aus der wachsenden indischen Umwelt- und Klimabewegung. In einem offenen Brief stellten sich 38 Umweltgruppen an ihre Seite und schlossen sich den Demonstrationen an. Für Shikhar Agarwal, der in Mumbai den indischen Ableger von Extinction Rebellion mitgegründet hat, eine Selbstverständlichkeit: "Letztendlich haben wir das gleiche Ziel: unseren Planeten gegen die Kapitalinteressen der wenigen zu verteidigen."

Solidaritätsbekundungen kamen auch aus Australien, wo die "Stop Adani"-Allianz im Bundesstaat Queensland seit Jahren gegen die Errichtung einer riesigen neuen Adani-Kohlegrube kämpft, die Nachschub für ein indisches Kraftwerk liefern soll. Die Gruppe zitiert den australischen Farmer Simon Gedda, der auch eine Verbindung zur fortgeschrittenen Klimakrise in seinem Land zieht: "Viele australische Farmer kennen diese Probleme – es ist ein Kampf, vor dem wir uns nicht verstecken können."

Porträtaufnahme von Elias König.
Foto: privat

Elias König

forscht an der Universität Peking zu Umwelt­philosophie, sozialen Bewegungen und epistemischer Gerechtigkeit. Seit 2015 schreibt er journalistisch darüber für Medien wie The Ecologist, Truthout und Analyse & Kritik. Außerdem ist er in der Klima­gerechtigkeits­bewegung aktiv.

Selbst in Deutschland gibt es regelmäßig Demonstrationen zur Unterstützung der indischen Bäuer:innenbewegung. Die Kundgebungen des Bündnisses "Berlin for India" werden auch aus der Klimagerechtigkeitsbewegung unterstützt, etwa vom BIPoC-Klimakollektiv Black Earth.

"Seit Jahren haben die Bäuer:innen die vielleicht am besten organisierte emanzipatorische Bewegung der Welt. Wir können viel von ihnen lernen", sagte die Landwirtin Julia Bar-Tal vom deutschen Ableger der internationalen Kleinbäuer:innenbewegung Via Campesina auf einer Demonstration.

Neben indischen Milliardären profitieren auch deutsche Unternehmen seit Jahrzehnten von der Liberalisierung und Industrialisierung des indischen Agrarsektors. Der Bayer-Konzern wird immer wieder dafür kritisiert, in Indien giftige Pestizide ohne die in Europa üblichen Warnhinweise zu verkaufen.

Ausgesetzt, aber nicht zurückgenommen

Erste Früchte trägt der Widerstand gegen das Gesetz bereits. Am 12. Januar veranlasste das indische Verfassungsgericht die einstweilige Aussetzung der neuen Bestimmungen und wies die Regierung an, ein Gremium zu berufen, das sich mit den Forderungen der Proteste auseinandersetzen soll.

Hannan Mollah, Politiker und Chef der mächtigen Landwirtschaftsgewerkschaft AIKS, stellte jedoch klar: "Wir wollen die vollständige Rücknahme der Gesetze. Bis dahin kämpfen wir weiter."

Als Hunderttausende Bäuer:innen am 26. Januar, dem indischen Nationalfeiertag, ins Zentrum von Neu-Delhi marschierten, kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei und zahlreichen Verletzten. Zwei der über 50 Gewerkschaften, die an der Organisation beteiligt waren, zogen sich daraufhin aus der Leitung des Protestbündnisses zurück. Doch schon für heute sind weitere Protestaktionen und landesweite Hungerstreiks geplant.

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