An keiner Stelle wird er erwähnt im deutschen Kohlebeendigungsgesetz, im Hintergrund ist er aber stets präsent: der Energiecharta-Vertrag, das 1994 in Kraft getretene umstrittene Investitionschutzabkommen.
Denn die Milliarden-Entschädigungen, die hierzulande für das Abschalten der Kohlekraftwerke an die Eigentümer gezahlt werden, verfolgen auch den regierungsoffiziellen Zweck, teuren und langwierigen Klagen vor den Schiedsgerichten des Energiecharta-Vertrags vorzubeugen.
Dass Kohle- und Atomkonzerne wie RWE und Vattenfall auf Grundlage der Energiecharta klagen oder damit drohen, ist vielfach bekannt. Aber auch für Gasprojekte gibt die Energiecharta ein probates Druckmittel ab.
So versucht der britische Gas- und Ölförderer Ascent Resources seit Monaten Slowenien zu verklagen, weil das Land eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) für ein Fracking-Erdgasprojekt verlangt.
Ein Grund für die Forderung nach einer Umweltprüfung ist auch die erfolgreiche Klage der slowenischen Umweltgruppe Alpe Adria Green gegen die quasi bedingungslose Genehmigung des Projekts, wie Fabian Flues von der Nichtregierungsorganisation Powershift gegenüber Klimareporter° betont.
Daraufhin habe die zuständige Umweltbehörde entschieden, dass eine UVP durchzuführen ist. Auch gebe es in der slowenischen Bevölkerung starke Bedenken gegen Fracking und erheblichen Widerstand vor Ort gegen das Ascent-Projekt, erläutert Flues.
Ascent Resources hat sich allerdings von Anfang an geweigert, eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen, und will, wenn das Projekt daran scheitert, von Slowenien 120 Millionen Euro "Schadenersatz."
Der Energiekonzern verfolgte nach Einschätzung von Flues zunächst eine Art Doppelstrategie. Mit Verhandlungen und diplomatischem Druck sollte erreicht werden, dass die Forderung nach einer Umweltprüfung zurückgenommen wird. Parallel wurde mit der slowenischen Regierung um die Entschädigung verhandelt. Diese Verhandlungen sind Flues zufolge im vergangenen März abgebrochen worden. Daraufhin habe Ascent angekündigt, vor einem Schiedsgericht zu klagen.
Ascent habe alle notwendigen Schritte für die Klageerhebung eingeleitet und angekündigt, dass das Schiedsverfahren "in Kürze" beginnen werde, so der Handelsexperte weiter. Bis dato gebe es aber keine offizielle Bestätigung für den Start des Verfahrens.
Italiens Austritt wird erst 2036 wirksam
Dass es auch Energiecharta-Klagen in der Gasbranche gibt, ist für Fabian Flues keine Überraschung. So klage die Betreibergesellschaft der Nord-Stream-2-Pipeline gegen die Europäische Union wegen der EU-Erdgasrichtlinie. Auch die Vergabe von Erdgas-Lizenzen und -Konzessionen sei bereits Gegenstand von Schiedsgerichtsklagen gewesen. "Allerdings ist die Klage von Ascent Resources die erste uns bekannte, die sich direkt gegen eine Umweltmaßnahme richtet", erklärt der Experte.
Nicht nur bei Klima- und Umweltschützern gilt die Energiecharta als rechtliches Fossil. Anfang Dezember 2020 hatten 150 Wissenschaftler in einem offenen Brief darauf hingewiesen, dass die Energiecharta ein großes Hindernis für einen raschen Übergang zu einem erneuerbaren Energiesystem darstelle.
Der Vertrag schütze fossile Energie-Investitionen, einschließlich Kohlebergwerken, Öl- und Gasförderung, Pipelines, Raffinerien und Kraftwerken, und erlaube es, fast jede staatliche Maßnahme anzufechten, die sich auf erwartete Gewinne auswirken könnte, kritisierte die Wissenschaftsgemeinde.
Am heutigen Dienstag beginnt in Brüssel die mittlerweile sechste Verhandlungsrunde zur Modernisierung der Energiecharta. Dass die Charta politisch in der Krise steckt, ist unübersehbar. Italien trat schon 2016 aus dem Vertrag aus – der Austritt wird absurderweise erst nach 20 Jahren rechtswirksam. Für eine Reform des Vertrags sollen sich unter anderem Frankreich, Spanien, Österreich, die Niederlande, Belgien und Luxemburg einsetzen.
"Am meisten bremst die Bundesregierung"
Handelsexperte Fabian Flues bleibt, was eine Reform betrifft, skeptisch. Die EU habe zwar vorgeschlagen, den im Vertrag verankerten Schutz für Investitionen in fossile Brennstoffe schrittweise abzuschaffen, die dafür vorgesehenen Fristen sind aber viel zu lang. So sollen fossile Projekte bis weit in die 2030er Jahre geschützt bleiben, Gasinfrastruktur sogar bis 2040, wie Flues erklärt.
Auch lehnten viele Charta-Staaten Änderungen am Vertrag generell ab – es müssten aber alle Staaten zustimmen, damit der Vertragstext geändert werden kann. Für den Powershift-Experten liegt die Lösung deshalb vor allem in einem Austritt aus dem Vertrag. Den halte inzwischen selbst die EU-Kommission für möglich.
Vorliegende interne Dokumente aus der vorherigen fünften Verhandlungsrunde zeigen allerdings, dass kein größerer EU-Staat bereit ist, die Vorschläge der EU in ihrer jetzigen Form zu unterstützen, schon gar nicht den eines Austritts.
Die größte Bremse in Europa ist für Fabian Flues dabei die Bundesregierung: "Sie setzt sich für einen Verbleib im Vertrag ein, damit deutsche Investor:innen weiterhin die Klagemöglichkeiten unter dem Energiecharta-Vertrag nutzen können".
Reformunfähigkeit bescheinigt dem Charta-Vertrag heute auch ein Bündnis von mehr als 400 zivilgesellschaftlichen Organisationen. Wie sie mitteilten, gehen die Organisationen davon aus, dass die Gespräche über die Vertragsreform am Ende scheitern und die Vorschläge der EU abgelehnt werden.
Einzige Alternative für das Bündnis ist deswegen ein Austritt der Staaten aus der Charta – und das am besten bis zum Weltklimagipfel im November in Glasgow.