Drei Kühltürme stehen direkt hinter einem Dorf, einer ist mit einer Sonne und einem blauen Band bemalt.
Bunte Bemalung: Kühltürme des Kraftwerks Turów, das gleich neben dem Tagebau steht. (Foto: Elena Kolb)

Wieder einmal zeigt Henry Smala die Risse in seinen Hauswänden. Nicht zum ersten Mal erzählt er Journalist:innen seine Geschichte: Der Boden unter seinem Haus in Zittau bewegt sich – ausgelöst durch den polnischen Kohleabbau in der Nähe. "Das Haus ist alles, was ich habe", sagt der ehemalige Elektriker.

Von der deutschen Politik fühlte sich Smala lange alleingelassen. Er habe sogar schon überlegt, selbst gegen den Kohleabbau zu klagen, so der 68-Jährige, "aber ich bin nur ein einfacher Handwerker" und seine Frau habe Angst vor der Auseinandersetzung gehabt. "Sie konnte deswegen nachts nicht mehr schlafen."

Die Kohlegrube von Turów und das dazugehörige Kraftwerk liegen in einem Dreiländereck. Kurz hinter den Grenzen zu Deutschland und Tschechien geht es in Polen in die Tiefe. Bis 2044 soll hier noch weiter nach Kohle gegraben werden. Damit das fast 300 Meter tiefe Loch nicht mit Grundwasser vollläuft, muss es abgepumpt werden.

Zum Ärger der deutschen und tschechischen Nachbarn. Denn so läuft Grundwasser aus Tschechien und Deutschland Richtung Polen ab. Das gefährdet die tschechische Trinkwasserversorgung und verursacht Bodenbewegungen unter Zittau. So belegen es deutsche und tschechische Studien. Außerdem beschweren sich die Nachbarn über Lärm- und Staubbelastungen.

In den vergangenen Jahren hatte vor allem der spektakuläre Streit zwischen Tschechien und Polen um Turów Aufmerksamkeit erregt. Nachdem sich die beiden Länder aber Anfang 2022 mit einem Abkommen einigten, klagte im vergangenen November nun die deutsche Grenzstadt Zittau gegen das polnische Vorgehen zur Erweiterung der Grube.

Weder Deutschland noch Sachsen wollten klagen

Im Büro von Zittaus Oberbürgermeister Thomas Zenker hängt eine Landkarte der Grenzregion an der Wand. Immer wieder steht er auf, um Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern zu erklären. Mit den Händen deutet er an, wie sich im letzten Jahrhundert die Grenzen verschoben haben. Eigentlich will er vor allem die regionalen nachbarschaftlichen Beziehungen hochhalten.

Luftaufnahme des Braunkohletagebaus Turów mit den zwei angrenzenden Städten Zittau und Bogatynia.
Der Braunkohletagebau Turów ist 260 Meter tief und soll noch tiefer werden. Vorn die sächsische Stadt Zittau, links das Kraftwerk Turów, hinten die polnische Stadt Bogatynia (Reichenau). Dazwischen wurden bereits mehrere Orte abgebaggert. (Foto: Julian Nyča/​Wikimedia Commons)

"Ich werde den Polen nicht vorschreiben, ob sie Kohle abbauen oder nicht. Das sind nationale Fragen", sagt er. Jahrelang versuchte Zittau erfolglos, sowohl die Landes- als auch die Bundesebene zum Handeln im Falle Turóws zu bewegen.

In Berlin scheint aber der politische Wille zu fehlen, sich in den Fall einzumischen, man sieht die Zuständigkeit für Turów auf Landesebene. Doch auch die sächsische Regierung hat keine politischen Schritte angekündigt, weshalb die Stadt Zittau prüft, eine Untätigkeitsklage gegen Sachsen einzureichen.

Als im Oktober 2022 öffentlich wurde, dass Polen eine Umweltprüfung zu der Verlängerung des Tagebaus für abgeschlossen erklärte, konnte Zenker trotz nachbarschaftlichen Wohlwollens das polnische Vorgehen nicht akzeptieren. "In der Umweltprüfung wurde noch nicht einmal die Möglichkeit eingeräumt, dass der Tagebau Bodenbewegungen unter Zittau auslösen könnte", sagt Zenker.

Der Stadt blieb nichts anderes übrig, als den Alleingang zu wählen. Zittau reichte in Polen Klage ein. "Das ist jetzt unsere letzte Chance", so Zenker. Bislang hat Zittau noch keine Antwort aus Polen erhalten.

"Tschechien war in einer wahnsinnig guten Verhandlungsposition"

Der polnische Betreiber von Turów, die mehrheitlich staatliche PGE, begründet den Weiterbetrieb des Tagebaus unter anderem mit den acht Prozent der polnischen Energieversorgung, die das Kraftwerk abdeckt. Nachdem 2020 die Lizenz für den polnischen Tagebau ausgelaufen war, verkündete der Energiekonzern, noch bis 2044 weiter nach Kohle baggern zu wollen.

Polen ist so abhängig von der Kohleindustrie wie kein anderes europäisches Land. Mehr als 70 Prozent des polnischen Stroms werden aus Stein- und Braunkohle gewonnen. Weil Braunkohle jedoch einer der schmutzigsten Energieträger überhaupt ist, gehören die Kilowattstunden Strom in Polen zu den klimaschädlichsten in Europa.

Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht in Polen dagegen nur langsam voran. Stattdessen hat die polnische Regierung angekündigt, in Zukunft mehr auf Atomkraft zu setzen. 2033 soll in Nordpolen ein neuer Reaktor in Betrieb genommen werden.

Für den Weiterbetrieb von Turów musste nach europäischem Recht geprüft werden, wie sich Grube und Kraftwerk auf die Umwelt auswirken. In der polnischen Prüfung sah auch Tschechien die Bedenken gegen den Tagebau nicht berücksichtigt. Deswegen klagte die Regierung 2021 vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Damals standen die Zeichen auf ein baldiges Ende des Kohleabbaus von Turów.

Schon im Dezember 2020 hatte die EU-Kommission der tschechischen Regierung in ihren wesentlichen Beschwerde-Punkten recht gegeben. "Tschechien war in einer wahnsinnig guten Verhandlungsposition. Wir hatten die EU auf unserer Seite", sagt Milan Starec. Der Familienvater wohnt auf der tschechischen Seite der Kohlegrube und kämpft mit einem Nachbarschaftsverein gegen deren Vergrößerung.

Polnisch-tschechisches Abkommen ermöglichte den Weiterbetrieb

Doch dann kam der 3. Februar 2022. "Morgens hörte ich bei der Arbeit in den Nachrichten, dass der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nach Prag gereist war", erinnert sich Starec. Nur wenige Stunden später wurde öffentlich, dass sich Tschechien und Polen auf ein Abkommen zu Turów geeinigt hatten – die Klage vor dem EuGH ließ Tschechien fallen.

Braunkohletagebau Turów
Die Kohlevorräte des Braunkohletagebaus Turów werden auf 373 Millionen Tonnen geschätzt. (Foto: Anna Uciechowska/​Wikimedia Commons)

In dem Abkommen erklärte sich die tschechische Regierung mit dem Weiterbetrieb von Turów einverstanden. Gleichzeitig verpflichtete sich Polen zu einer Zahlung von 45 Millionen Euro an Tschechien und sagte zu, eine unterirdische Schutzmauer zu bauen, um den Wasserabfluss nach Tschechien zu verhindern.

"Das war Verrat", fasst Milan Starec seine Sicht auf diesen Tag zusammen. "Die Schutzmauer betrifft überhaupt nicht unsere Wasserreserven", sagt er. Trotzdem hätten sich viele Tschechen seit dem Abkommen mit der Situation abgefunden, sagt Starec. Denn mit dem Geld aus Polen solle jetzt eine neue Trinkwasserversorgung für die Region gebaut werden. "Aber selbst wenn die rechtzeitig fertig wird – die Pflanzen in der Region trocknen aus", sagt Starec.

Er wohnt mit seiner Familie in einem Fachwerkhaus in dem kleinen tschechischen Dorf Uhelná. Die Straße, die in das Dorf führt, endet dort zwischen ein paar zusammengewürfelten Häusern. In manchen Gärten gackern Hühner, in der Ferne kräht ein Hahn. Am Horizont steigt der Wasserdampf von Turów in die Luft.

"Als wir vor sieben Jahren mit den Kindern hierherzogen, dachten wir: Das ist das Paradies", sagt Starec. Jetzt wird seine Familie wahrscheinlich in ein paar Jahren in den Abgrund einer Kohlegrube schauen.

Aber Starec will sein Zuhause nicht aufgeben. Im vergangenen Oktober hat er zusammen mit tschechischen Umweltorganisationen und dem BUND Sachsen Beschwerde bei der Europäischen Kommission gegen das polnisch-tschechische Abkommen zu Turów eingereicht. "Wir haben angefangen zu kämpfen und hören jetzt nicht einfach wieder auf", sagt er.

"Die Zittauer Klage kann unsere Transformation beschleunigen"

Petra Kalenská findet es gut, dass sich auch der sächsische BUND der Beschwerde gegen das polnisch-tschechische Abkommen angeschlossen hat. Sie ist Anwältin und Projektmanagerin für den Fall Turów bei der zweckorientierten Anwaltskanzlei Frank Bold, die sich sozialen und ökologischen Problemen widmet.

Vom Kraftwerk Turów sind es nur wenige hundert Meter bis nach Deutschland. (Foto: Vondraussen/​Wikimedia Commons)

"Bei Turów geht es nämlich nicht um einen Streit zwischen zwei Ländern", sagt Kalenská. "Es geht darum, dass die fossile Industrie europäisches Recht verletzt und Menschen, Umwelt und Klima in drei Ländern schädigt."

Auch die polnische Region im Schatten des Kraftwerks Turów ist von dem späten Kohleausstieg betroffen. In der Gemeinde Bogatynia sieht man an einem Morgen Menschen in blauen Arbeitsanzügen und mit Helmen auf dem Kopf durch die Straßen laufen. Einer der riesigen Kraftwerkstürme von Turów – hier aus nächster Nähe zu sehen – ist mit einer strahlenden Sonne bemalt.

Ein Kohleausstieg erst 2044 ist nicht im Sinne der Klimaziele der Europäischen Union. Die polnische Region um Turów wurde deshalb durch die EU von der Möglichkeit ausgeschlossen, sich für Gelder aus dem Just Transition Fund zu bewerben. Dieser "Fonds für einen gerechten Übergang" unterstützt Regionen beim Ausstieg aus der Kohle.

"Das ist schrecklich – wir verlieren sehr viel Geld", sagt Agnieszka Spirydowicz von der polnischen Organisation Zklaster, die den Ausbau von erneuerbaren Energien in der Region fördert. Dabei gebe es in der Region schon viele Ideen für die Transformation: Wind- und Solarparks sollen gebaut werden. "Wir wollen diese Energie über ein regionales Wasserkraftwerk speichern – in der ehemaligen Grube von Turów."

Spirydowicz hält es für richtig, dass Zittau in Polen geklagt hat: "Diese Region hat Potenzial und die Klage beschleunigt hoffentlich unseren Kampf für eine schnellere Transformation", sagt sie.

Die deutschen Kohlekraftwerke wurden vor 30 Jahren geschlossen

"In den Gemeinden um die Kohlegrube teilen wir in allen drei Ländern eine sehr ähnliche Geschichte", sagt der Zittauer Oberbürgermeister Zenker. Auf seiner Landkarte zeigt er nochmal die vergangenen Grenzverschiebungen.

 

Der Tagebau Turów wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Deutschen eröffnet. Er war Teil des "Schwarzen Dreiecks", wie die Region wegen der vielfältigen Umweltbelastungen durch die Kohleindustrie auf allen drei Länderseiten genannt wurde.

Doch die deutschen Kohlekraftwerke wurden in den 1990er-Jahren geschlossen. Während die Umweltbelastungen sanken, gingen Arbeitsplätze verloren. "Deswegen empfinden viele hier Mitgefühl mit den Menschen in Polen", sagt Zenker.

Die ähnlichen Hintergründe und Probleme sowie das regionale Verständnis für die andere Seite sind ganz im Sinne der europäischen Einigung. Das ändert nichts daran, dass der Konflikt um die Kohlegrube weiter schwelt. Langsam, aber unaufhörlich graben sich die polnischen Schaufelbagger weiter durch den Grund der Grenzregion und destabilisieren damit auch die nachbarschaftlichen Beziehungen.

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