Wie gibt man etwas, was sich wie der Klimawandel beschleunigt, angemessen wieder? Seit Jahren zog der Deutsche Wetterdienst (DWD) dazu eine 1881 beginnende Linie durch die Messwerte und kam zuletzt zum Ergebnis, seitdem habe sich die Temperatur in Deutschland um 1,9 Grad erhöht. Für diese Angabe stand der staatliche Wetterdienst seit Langem in der Kritik von Klimaforschern, die eine Erwärmung deutlich jenseits der zwei Grad für Deutschland angaben.
Am Dienstag vollzog der DWD hier in seinem neuen Klimastatusbericht eine, muss man sagen, Kehrtwende. Der bisher verwendete lineare Trend könne die Beschleunigung des Temperaturanstiegs in den letzten 50 Jahren nicht mehr angemessen darstellen, erklärte der für Klima und Umwelt zuständige DWD-Vorstand Tobias Fuchs am Dienstag in Berlin.
Daher nutze der Wetterdienst künftig eine neue, flexible Klima-Trendlinie, die die Beschleunigung besser abbilde. Auf dieser Basis hat sich das Klima in Deutschland im Vergleich zur vorindustriellen Zeit bereits um 2,5 Grad erwärmt, so Fuchs. Das sei ein ernüchterndes Ergebnis.
Wissenschaftlich nennt sich das neue Verfahren "lokales lineares Regressionsmodell", englisch abgekürzt LOESS. Es wird in der Fachwelt als das am besten geeignete Berechnungsverfahren für die Klima-Trendlinie angesehen.
Beschleunigung des Klimawandels fiel bisher unter den Tisch
Es gewichtet, vereinfacht gesagt, die Temperatur-Entwicklungen in den letzten Dekaden stärker, um ein realeres Abbild zu erhalten. Zudem bilde die neue Trendlinie aber auch kühlere Perioden optimal ab und könne für Klimagrößen wie Niederschlag und Sonnenscheindauer eingesetzt werden, lobt der DWD.
Die stärkere Berücksichtigung der Beschleunigung scheint mehr als angebracht zu sein. Schließlich liegt der Temperaturanstieg in Deutschland seit 1881 im Schnitt bei "nur" 0,13 Grad pro Jahr. Wird aber nur der Zeitraum seit 1970 betrachtet, dann steigt der Schnitt auf 0,41 Grad – der Temperaturanstieg hat sich sichtlich beschleunigt.
Anders gesagt: Der bisher verwendete gleich gewichtete und lange Zeitraum über mehr als 140 Jahre lässt im linearen Trend den scharfen Temperaturanstieg in den letzten Dekaden unter den Tisch fallen.
Wetterexperten wehren sich gegen Vorwurf des Alarmismus
Die DWD-Experten wehrten sich aber bei der Vorstellung der Ergebnisse gegen einen möglichen Vorwurf von Alarmismus. "Wir haben nicht neu gemessen, die Welt ist dieselbe wie vorher und die Daten sind dieselben", betonte der für Klimaüberwachung zuständige DWD-Vorstand Andreas Becker am Dienstag. Die Welt sei eben nicht linear, erklärte er.
Bleibt die Frage, warum die Wissenschaft für 2024 – ebenfalls nach dem Loess-Verfahren – weltweit ein Temperaturplus von 1,55 Grad angab, in Deutschland aber nunmehr die 2,5 Grad für dasselbe Jahr gelten.

Das liegt daran, dass sich die Erde über Land deutlich mehr erwärmt und Europa zudem als der Kontinent mit der stärksten Erwärmung gilt. Für urbane Räume gilt, dass auf die 2,5 Grad dann noch ein weiteres Grad Erwärmung aufgeschlagen werden muss, um den Wärmeinsel-Effekt der Städte angemessen abzubilden, bestätigten die DWD-Experten.
Die neue Trendlinie spiegelt im Grunde nur all die entsprechenden Anzeichen des Klimawandels in Deutschland wider. So war hierzulande 2024 mit 10,9 Grad Celsius das wärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen und Deutschland erzielte einen sogenannten Allzeitrekord bei der Tagesmitteltemperatur.
Besondere Sorgen macht dem DWD, dass dieser Rekord gleich um 0,3 Grad über der Mitteltemperatur von 2023 liegt. Das sei für einen Mittelwert "ungewöhnlich viel", sagte Tobias Fuchs am Dienstag in Berlin.
Temperaturrekord 2024 ohne ausgeprägte Hitzewelle
Auch habe es bis 2014 nie einen jährlichen Mittelwert über zehn Grad gegeben, setzte der DWD-Vorstand hinzu. Mit 2024 hätten dann aber sieben der letzten zehn Jahre den Zehn-Grad-Wert übertroffen. Fuchs: "Angetrieben wird diese Entwicklung vor allem durch globale Rekordtemperaturen der bodennahen Atmosphäre und der Meeresoberflächen."
Dabei hatte es, wie die DWD-Angaben ausweisen, im vergangenen Jahr keine ausgeprägte Hitzewelle gegeben, sondern es war, vereinfacht gesagt, in jedem Monat einfach zu warm. Die Spitzenabweichung nach oben verzeichnete dabei der Februar. Da lag der Temperaturschnitt um 6,2 Grad über dem Mittel der Jahre 1961 bis 1990. Zugleich war der Februar aber auch besonders feucht.
Für Tobias Fuchs resultiert aus der sich beschleunigenden Erwärmung eine Vielzahl von Folgeproblemen. Was vor 1990 extreme Wetterjahre waren, sei heute normal. Dazu kommt die zunehmende Variabilität des Wetters. Sehr warme und sehr trockene Jahre von 2018 bis 2020 wechselten sich mit den ebenso warmen, aber auch sehr nassen Jahren 2023 und 2024 ab.
Belastungen durch Hitze verstärken sich
Weitere Folge ist die wachsende Zahl von Hitzewellen. In davon besonders betroffenen Regionen entlang des Oberrheingrabens um Mannheim oder auch um Frankfurt am Main seien Hitzewellen früher ein- bis zweimal in zehn Jahren vorgekommen. Jetzt sei das im Schnitt in jedem zweiten Jahr der Fall.
"Damit verstärken sich die belastenden Wirkungen von Hitze auf Menschen, Umwelt, Wirtschaft und Infrastrukturen – und das nicht nur in Städten", betonte DWD-Vorstand Fuchs. So steige gerade in der Wachstumsperiode der Pflanzen im Frühjahr der Bewässerungsbedarf in der Landwirtschaft. Bewässerung sei aber teuer, und das gefährde wiederum die Ertragskraft der Betriebe, sagte Fuchs.
Nicht zuletzt wird die Energieversorgung wetterabhängiger. Analysen, die der DWD am Dienstag ebenfalls vorstellte, zeigen aber, dass die Häufigkeit der sogenannten Dunkelflauten im Zuge des Klimawandels nicht zunimmt. Das Auftreten von Dunkelflauten passe dabei genau zur Großwetterlage "Hoch Mitteleuropa". Das Vorkommen dieser Lage habe sich seit Anfang der 1950er Jahre – so weit reichen die Zeitreihen zurück – trotz des Klimawandels "nicht markant" verändert, konstatiert der Deutsche Wetterdienst.
Für DWD-Vorstand Fuchs ist das Fazit klar. "Wir erleben und messen in Deutschland eine beschleunigte Erwärmung." Für ihn stellt sich auch nicht mehr die Frage, ob das Pariser 1,5-Grad-Klimaziel gerissen wird, sondern nur noch, wann dies dauerhaft der Fall sein wird. Es werde wohl im Zeitraum von 2028 bis 2036 passieren, lautet derzeit auch die DWD-Prognose.
Fuchs appellierte deswegen auch an die Politik. Jedes durch ambitionierten Klimaschutz vermiedene Zehntelgrad Erwärmung helfe. Für DWD-Klimaüberwacher Andreas Becker sind die nationalen wie weltweiten Extremereignisse "Zahltage" für Versäumnisse beim Klimaschutz. "Die Zeit für einen auch international erfolgreichen Klimaschutz läuft uns davon und damit auch die Zeit für wirksame Prävention und Vorsorge."