Fortsetzung von Teil 1: "Teutschlands neue Goldgrube"
Als nach der Wende in Ostdeutschland Reporter aus allen Ländern die Dörfer im Hinterhof der dortigen Braunkohlereviere besuchen, treibt es ihnen Tränen in die Augen. Sie entdecken infernalisch stinkende Orte, wo kaum ein Grashalm wächst. Mölbis, drei Kilometer vom Braunkohle-Zentrum Espenhain entfernt, wird zum dreckigsten Ort Europas ernannt.
Hier hat die DDR Phenole für die Plastikherstellung, Treibstoffe, Bitumen, Teer, Koks, Schmierstoffe, Öle, Schwefel und anderes mehr aus der Braunkohle herausgeholt. Die Tageszeitung Taz berichtet: "Eine dichte Rußpatina bedeckt das Dorf, selbst Enten und Hühner sind angeschwärzt. Die Gören, die auf dem Bürgersteig spielen, sehen aus wie Schornsteinfeger. Der beißende Geruch legt jedem Neuankömmling einen Brechreiz in den Magen."
Auch an anderen Standorten sind die Umweltschäden apokalyptisch. Deutschland ist der größte Braunkohleförderer weltweit. Wo die 200 Meter langen und 14.000 Tonnen schweren Braunkohlebagger – die größten Landmaschinen der Welt – ihre Schaufelräder drehen, bleiben die berühmten Mondlandschaften zurück, die anschließend aufwändig rekultiviert werden müssen.
In den 1950er Jahren hatte die DDR aus ökonomischen Zwängen den Autarkie-Irrsinn der Nazis fortgesetzt. Braunkohle deckte im SED-Staat zwei Drittel des Primärenergiebedarfs und bis zu 88 Prozent der Stromerzeugung. Und sie war das wichtigste Grundprodukt der Chemieindustrie.
Neue Tagebaue, Kraftwerke und vor allem das legendäre Lausitzer Gaskombinat Schwarze Pumpe zur Braunkohleverwertung mit bis zu 18.000 Beschäftigten wurden aufgebaut – ein "gewaltiges industrielles Zentrum, in dem sich die Kraft der Arbeiterklasse konzentriert", schwärmte Schwerindustrie-Minister Fritz Selbmann im August 1955. Die verheerenden Umweltfolgen wurden in Kauf genommen.
Fischsterben und pestilenzartiger Gestank
Seit die Braunkohle abgebaut wird, werden in Deutschland Umwelt und Natur geschleift. Anfangs sorgen vor allem Wasserverschmutzungen für Aufregung. Nach Eröffnung des Braunkohlenstandorts Ramsdorf bei Leipzig 1899 ist das Wasser "so schlecht, dass es das Vieh nicht mehr annimmt und dass es zum Kochen und sonst zum Genuss des Menschen nicht verwendbar ist", zitiert die Historikerin Kerstin Kretschmer eine Bergschadensklage von 1906. Viele Ortschaften klagen über braun gefärbtes Wasser, Fischsterben und pestilenzartigen Gestank, dazu die Abraumhalden und aufgerissene Landschaften.
Eine wachsende Sensibilität rückt die Braunkohle aber erst in den 1970er Jahren ins Visier der neuen Umweltbewegung, zunächst im Westen, später auch im Osten. Das Sündenregister ist lang: Großräumige Grundwasserabsenkungen auf Tausenden von Quadratkilometern, Bodenabsackungen und schwere Schäden in der Landwirtschaft, der Ausstoß von Feinstaub und Quecksilber, Schwefel, Stickoxiden und Kohlendioxid.
Saurer Regen und Waldsterben gehen gleichfalls mit aufs Konto der Braunkohle. Die Politik der hohen Schornsteine sorgt für eine grenzüberschreitende großräumige Verteilung der Schadstoffe. 1978 steigt der Schwefelausstoß auf dem Gebiet der heutigen EU auf 35 Millionen Tonnen.
Im Sommer 1984 wird die Inbetriebnahme der berühmten "Dreckschleuder der Nation" – des Braunkohlekraftwerks Buschhaus bei Helmstedt – zum Lehrstück für eine zum Himmel stinkende Umweltpolitik. Buschhaus erhält am 1. August die endgültige Betriebsgenehmigung – ohne vorgeschriebene Rauchgas-Entschwefelungsanlage. Dazu wird das Kraftwerk mit seinem 307 Meter hohen Schornstein zur "Altanlage" erklärt. "Ich kenne kein Land, in dem Umweltschutz so streng gehandhabt wird", windet sich Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU). "Buschhaus entschwefeln, Albrecht entschwafeln!" skandieren Tausende Demonstranten.
Nach dem am 11. Dezember 1997 beschlossenen Kyoto-Protokoll wird die Braunkohle als Klimakiller Nummer eins identifiziert. Von allen fossilen Brennstoffen hat sie die schlechteste Klimabilanz. Die Umweltstiftung WWF veröffentlicht im April 2007 ein Ranking der schlimmsten Emittenten. Spitzenreiter sind die Braunkohlekraftwerke Frimmersdorf, Jänschwalde und Buschhaus. Vier der fünf größten CO2-Schleudern Europas sind deutsche Braunkohlemeiler.
Friedhöfe werden umgesiedelt, Kirchen abgerissen
Wo sich die Bagger in die Flöze fressen, müssen die Menschen weichen. 313 Ortschaften mit 110.000 Einwohnern sind seit 1924 in Ost- und Westdeutschland weggebaggert worden. Auch Friedhöfe werden umgebettet, Kirchen und andere Kulturdenkmäler abgerissen. Voriges Jahr fiel der neoromanische "Dom von Immerath" in Schutt und Asche. Devastierung heißt der bergbauliche Fachbegriff, er transformiert die Verwüstung ins milder klingende Lateinische.
Die meisten Dörfer werden in der Lausitz umgesiedelt: 136 Siedlungen. Der Kampf um Horno, das berühmte sorbische 380-Seelen-Dorf in Brandenburg, wird nach der Wende zum Symbol für den Kampf gegen die Braunkohle. Das unter Denkmalschutz stehende, trotzige Dorf ist eines der schönsten in Brandenburg, es liegt im Revier des Braunkohletagebaus Jänschwalde. Horno selbst ist kein relevantes Braunkohlegebiet, es steht aber dem Bagger im Weg und muss ständig umfahren werden.
Schon 1977 entscheidet der Bezirkstag Cottbus: Horno wird abgerissen. Doch bis zur Wende 1989 passiert nichts, die Einwohner atmen auf. Danach versprechen der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) und sein junger grüner Umweltminister Matthias Platzeck die Rettung der sorbischen Perle. Platzeck redet viel von Heimat und Demut vor der Schöpfung. Er empfinde "Ekel" angesichts des rein wirtschaftlichen Denkens. Horno jubelt.
Am 30. März 1993 beschließt die brandenburgische Landesregierung das genaue Gegenteil: die Beseitigung Hornos und die Weiterführung des Tagebaus Jänschwalde. Umsiedlungsexperten aus dem Rheinland werden in die Lausitz geschickt, am Reißbrett entsteht die Musterhaus-Siedlung Neu-Horno als neuer Stadtteil der Nachbargemeinde Forst.
Die Einwohner sind stur, trotz Morddrohungen und angekündigter Prügel von den Kohlekumpeln wollen 91 Prozent bleiben. Sie ziehen von Prozess zu Prozess bis zum Europäischen Gerichtshof; sie erringen kleine Siege, aber am Ende verlieren sie alles.
Im November 2005 hat das Verwaltungsgericht Cottbus das letzte Wort. Es geht ums Ganze: Wenn die Braunkohle in Horno verliert, dann ist das Wegbaggern ganzer Dörfer in Zeiten großer Energie-Überproduktion in Deutschland nicht mehr durchsetzbar. Doch die Enteignung der beiden letzten Einwohner Hornos, Ursula und Werner Domain, wird vom Gericht für rechtens erklärt. Die Bagger, die schon an der Grundstücksgrenze lauern, dürfen vorrücken.
Heute kann das sorbische Dorfleben von Horno im "Archiv verschwundener Orte" in Forst auf alten Filmen bestaunt werden. Die Buchführung der Zerstörung ist mustergültig. Ein Forschungsprojekt zur Kulturgeschichte und Zerstörung Hornos sorgt für die umfassendste Dokumentation eines Dorfs, das der Braunkohle weichen musste.
Der Hambacher Forst ist noch in keinem Archiv verschwundener Orte gelandet. Die Braunkohlegegner wollen nicht aufgeben.