Baulich abgetrennter Radweg an einer Straße in Valencia.
Auch in Valencia wurde die progressive Stadtregierung abgewählt, deswegen verschwinden aber noch lange nicht alle Radwege. (Bild: Pacopac/​Wikimedia Commons)

Viele spanische Städte und Gemeinden haben in den letzten Jahren eine fortschrittliche Verkehrspolitik verfolgt, besonders die sogenannten "Städte des Wandels" (ciudades del cambio) mit ihren breit verankerten linken Reform-Regierungen. Nicht nur die Großstädte Barcelona und Valencia, auch viele kleinere Städte wie Pontevedra und Vitoria können mittlerweile auf eine jahrelange erfolgreiche Verkehrswende-Politik zurückblicken.

Auf diese kommunalen Erfahrungen konnte sich die Minderheitsregierung des Sozialisten Pedro Sánchez bei der Durchsetzung von Verkehrswendemaßnahmen auf nationaler Ebene stützen. Seit November 2020 gilt landesweit ein innerörtliches Limit von Tempo 30 oder weniger.

Das "Gesetz zum Klimawandel und zur Energiewende" verpflichtet zudem alle Städte in Spanien mit mehr als 50.000 Einwohnern, bis 2023 Umweltzonen zu schaffen. Der Verkehrsexperte Miguel Álvarez vom Mobility Institute in Madrid konstatiert insgesamt einen "Paradigmenwechsel": Das Gesetz mache einen "tiefgreifenden Wandel in der Hierarchie" deutlich – es gehe nicht mehr nur ums Auto" – und bringe auch eine Geschlechterperspektive ein.

Die Sánchez-Regierung nutzt konsequent ihre politischen Spielräume und finanziellen Möglichkeiten, nicht zuletzt die Pandemie-Fördermillionen aus Brüssel, um auf kommunaler Ebene gewonnene Erfahrungen in eine nationale Verkehrswende-Politik umzumünzen.

In der Einschätzung von Álvarez, seit Kurzem zuständig für Mobilität in der Gemeinde Rivas-Vaciamadrid, wurden durchaus richtige, wenn auch noch unzureichende Schritte unternommen. Als Beispiel führt er die Schaffung einer nationalen Behörde für Fahrradmobilität an, die jedoch nur über ein sehr begrenztes Budget verfügt.

Positivbeispiel Sevilla

Jüngstes Beispiel ist die andalusische Stadt Sevilla, lange Zeit eine Bastion des Konservatismus in Spanien. Sevilla hat mit einem Budget von 32 Millionen Euro in nur 18 Monaten aus dem Nichts ein Netzwerk von 80 Kilometern geschützter Radwege aufgebaut. Zuletzt wurden 70.000 tägliche Fahrten verzeichnet. Platz machen mussten rund 5.000 Parkplätze.

2003 war in Sevilla eine Koalition zwischen der Sozialistischen Partei und der örtlichen Partei der Vereinigten Linken unter Führung der fahrradbefürwortenden Politikerin Paula Garvín an die Macht gekommen. Der Bürgermeister konnte von den Fahrrad-Plänen überzeugt werden, nachdem in einer Umfrage erstaunliche 90 Prozent auf die Frage "Glauben Sie, dass eine Fahrradinfrastruktur gut für Sevilla wäre?" mit Ja antworteten.

Wie in anderen Städten war hier neben einer günstigen politischen Konstellation eine einzelne Person in einer Schlüsselposition entscheidend. Im Falle Sevillas war es Manuel Calvo. Der langjährige Fahrradaktivist und Nachhaltigkeitsberater erhielt den Auftrag, ein geschütztes Radwegenetz für seine Stadt zu planen. Das Ergebnis war der Plan de la Bicicleta de Sevilla, der ein vollständig vernetztes und geschütztes Radwegenetz vorsah.

Der Schlüssel zum Erfolg war die Geschwindigkeit der Umsetzung: Das 80-Kilometer-Netzwerk von geschützten Radwegen entstand in nur eineinhalb Jahren. Fertigstellung und Freigabe sollten innerhalb der Legislaturperiode erfolgen, denn der Plan war heftig umstritten. Den Platz räumen mussten 5.000 öffentliche Parkplätze, eine Zahl, die lange geheim gehalten wurde, wie Calvo kürzlich auf einer Konferenz berichtete.

Der Beteiligungsprozess war ebenfalls wichtig, dabei ging es jedoch um das "Wie" und nicht um das "Ob". "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in Mobilitätsfragen kein Konsens möglich ist, weil es so viele Interessen gibt", sagte Calvo. "Man muss also mit den meisten Leuten eine Vereinbarung treffen. Aber unter Berücksichtigung – und zwar eindeutig –, dass etwas getan wird."

Nach Abwahl: Wird Erreichtes rückgängig gemacht?

In jüngster Zeit wurden in Spanien einige fortschrittliche Lokalregierungen abgewählt, nicht nur in Sevilla, auch in Barcelona oder Valencia. Die konservative Partido Popular und besonders die rechtsradikale Vox machten vielerorts Wahlkampf mit der Ankündigung einer Rückabwicklung der fahrradfreundlichen Politik – ganz ähnlich wie mit feministischer und inklusiver Politik, die ihnen gleichfalls ein Dorn im Auge sind.

In einigen spanischen Städten und Gemeinden kam es tatsächlich zu spektakulären Rückbauaktionen. In der 200.000-Einwohner-Stadt Elche in der Region Alicante, wo eine Koalition zwischen der Partido Popular und der rechtsextremen Vox an die Macht gelangt war, wurde ein geschützter Radstreifen in einer Hauptstraße durch die Innenstadt zugunsten einer Autospur entfernt.

Foto: Fabian Grimm

Timo Daum

ist Gast der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität und gesell­schaft­liche Differenzierung am Wissen­schafts­zentrum Berlin für Sozial­forschung (WZB). Letztes Jahr erschien von ihm im IPG Journal der Aufsatz "Mentales Neuland" über die Verkehrs­wende in spanischen Städten und die Wechsel­wirkungen mit der Landes­politik.

Die Begründung, die Verkehrsstadtrat Claudio Guilabert lieferte, spricht Bände: Eltern einer privaten Jesuitenschule hätten sich darüber beschwert, dass sie wegen des Radwegs vor der Schule in zweiter Reihe hätten parken müssen.

Guilaberts Vorgängerin Esther Díez kritisierte den Plan, im Straßenraum erneut Radfahrende mit Autos und Motorrädern zusammentreffen zu lassen, als "barbarisch" und warf der neuen Regierung "Fanatismus" vor.

Auch die Stadt Valladolid verliert 25 Prozent ihrer Busspuren und zwei Radwege von struktureller Bedeutung für das Radwegenetz. In Logroño, wo die Konservativen allein regieren, passiert Ähnliches.

Selbst in Barcelona will der neue sozialistische Bürgermeister Jaume Collboni Fahrradwege "auf den Prüfstand" stellen. Er hat auch Planungen für weitere "Superblocks" – für die Barcelona international bekannt ist – vorerst gestoppt.

Die Leiterin für urbane Strategie in der Stadtverwaltung von Barcelona, Ariadna Miquel, ist trotzdem nicht ganz unzufrieden. Einen Teil der Kritik an der bisherigen Umsetzung der neuen Verkehrspolitik lässt sie gelten: Der Fokus liege einseitig auf einer Innenstadtverschönerung. Demgegenüber sehen sich die Sozialisten in Barcelona eher den proletarischen Außenbezirken verpflichtet.

Kein breiter Rollback, aber Sabotage und Verlangsamung

Mit solchen Rollbacks bringen sich die autofreundlichen Lokalregierungen allerdings auch in die Defensive, sie ernten wütende Proteste. Im katalanischen Städtchen Castelldefels beteuert der neu gewählte konservative Bürgermeister, der dortige Rückbau eines Radweges auf einer der Hauptstraßen sei Teil eines Projektplans, der die Radwege in der Stadt "verfünffachen wird".

Verkehrsexperte Miguel Álvarez gibt sich verhalten optimistisch, er glaubt nicht, dass ein dramatischer Rückbau auf breiter Front zu erwarten ist. Alvarez verweist auf das Beispiel Madrid, wo vor einigen Jahren eine rechte Regierung unter Bürgermeisterin Manuela Carmena mit dem Versprechen angetreten war, die Fortschritte der vorherigen Legislaturperiode zunichte zu machen.

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Als Carmena 2019 an die Macht kam, wurde die fortschrittliche Niedrig-Emissionszone "Madrid Central" der Vorgängerregierung, die auch Vorbild für das landesweite Gesetz der Sánchez-Regierung war, nicht wieder abgeschafft. Die Zone wurde zwar umbenannt in "Madrid 360" und bestimmte Einschränkungen wurden aufgeweicht, aber im Großen und Ganzen blieb sie erhalten.

Álvarez zufolge wurden in Madrid Radwege in der Folgezeit sogar erweitert und neue Parkbeschränkungen eingeführt. Die Dynamik der Verkehrswende habe nachgelassen, alles gehe langsamer, aber es gebe keine allgemeine Regression, betont er.

Der Madrider Verkehrswendeaktivist Ramón Linaza schätzt die Entwicklung in Madrid ähnlich ein wie Álvarez: "Madrid Central" konnte im Wesentlichen erhalten bleiben. Er betont, die Zivilgesellschaft müsse immer wachsam bleiben, um massive Rollbacks zu verhindern.

Wichtig ist generell, dass – wie in Sevilla – ein Verkehrswendeprojekt schnell und entschieden umgesetzt werden muss, damit rasch die Vorteile klar werden für alle – und es dann schwer wird, einfach wieder zum alten Zustand zurückzukehren, egal wie laut im Wahlkampf gebrüllt wurde.

Auch auf nationaler Ebene fanden dieses Jahr in Spanien Wahlen statt. Eine angekündigte Koalition der konservativen Volkspartei mit der rechtsradikalen Vox verpasste nur knapp die absolute Mehrheit. Dem Sozialisten Sánchez gelang es abermals, eine Minderheitsregierung zu bilden, sodass mit einer Fortsetzung der fortschrittlichen Mobilitätsagenda auf nationaler Ebene zu rechnen ist.

Mancherorts wurden verkehrswendeaktive Lokalregierungen mehrmals wiedergewählt, so zum Beispiel in Vitoria und Pontevedra. Auffällig ist, dass in diesen Städten das Thema Mobilität aus der politischen Polarisierung herausgehalten werden konnte. Konstante Politik sei eher dort möglich, so Miguel Álvarez, wo es gelingt, "das Thema zu entideologisieren".

Städte wie Berlin können daraus möglicherweise lernen, dass auch hier der Kampf nicht verloren ist. Seit eine schwarz-rote Landesregierung in Berlin ans Ruder gekommen ist, gerät das ambitionierte Mobilitätsgesetz unter Druck und die Einrichtung lange geplanter Fahrradwege wird blockiert.

Allerdings war Berlin schon vorher keine Leuchtturmstadt, auch der rot-grün-rote Senat war bei der Umsetzung des 2018 beschlossenen "Fahrradgesetzes" hoffnungslos im Hintertreffen. Von den anvisierten 2.700 Kilometern "lückenloses Radnetz" seien erst 113 Kilometer gebaut worden – also mickrige 4,2 Prozent, ergab im Januar eine Analyse der Verkehrsinitiative Changing Cities. Von Rollback kann hier also gar keine Rede sein, gab es doch vorher keinen nennenswerten "Roll forward".

Anzeige