Ziemlich kurz angebunden brachte Bundesratspräsident Reiner Haseloff die Sache hinter sich. Der Tagesordnungspunkt 75 werde "nicht behandelt", erklärte Haseloff zu Beginn der jüngsten, der 1002. Bundesratssitzung.
Nicht behandelt? Eine solche Begründung kennt die Geschäftsordnung der Länderkammer eigentlich nicht.
Auf Nachfrage spricht die Pressestelle des Bundesrates davon, TOP 75 sei zu Beginn der Sitzung von der Tagesordnung abgesetzt worden, und bezieht sich dabei auf nicht öffentliche Vorbesprechungen zu den Plenarsitzungen.
Gründe für die Absetzung könnten also nicht genannt werden. Vielleicht könne das "federführende" Umweltministerium weiterhelfen.
Auch das Ministerium hält sich vornehm zurück. Zu den Vorgängen bei einem anderen Verfassungsorgan könne man sich nicht äußern, teilt ein Sprecher mit. Womöglich werde das Ministerium in Gespräche einbezogen werden. Dazu sei aber zurzeit nichts bekannt.
Einzig der Umweltminister Baden-Württembergs, der Grüne Franz Untersteller, klärt die Öffentlichkeit auf. Der Bundesrat habe in seiner Sitzung den Vorschlag der Bundesregierung für eine Novelle der 13. Bundesimmissionsschutzverordnung von der Tagesordnung abgesetzt, teilt sein Haus mit. Grund dafür seien unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf Grenzwerte zu Quecksilberemissionen aus Kraftwerken.
Deutschland stimmte mit Polen, Ungarn und Co
Ganz exakt ist das nicht. Beim "nicht behandelten" TOP 75 ging es, verkürzt gesagt, um eine neue Verordnung für Großfeuerungsanlagen. Die wurde notwendig, weil die EU im Juli 2017 eine neue Richtlinie für Schadstoffemissionen aus Kraftwerken und Industrie beschloss, die sogenannte Bref-Richtlinie.
Diese hätte nach deutschem Recht bis Juli 2018 umgesetzt werden müssen. Mit der Richtlinie hatte der deutsche Gesetzgeber aber von vornherein ein Problem. Denn die Bundesumweltministerin hatte 2017 im EU-Industrieausschuss zusammen mit Polen, Tschechien, Bulgarien, Finnland, Ungarn, der Slowakei und Rumänien gegen die neuen Grenzwerte gestimmt: Auch Deutschland hielt die neuen Grenzwerte für technisch nicht umsetzbar.
Der EU-Vorschlag wurde dennoch knapp mit der nötigen Mehrheit von 65 Prozent der Stimmen verabschiedet. Das nahm vor allem die deutsche Kohlewirtschaft über Jahre zum Anlass, die Rechtmäßigkeit der neuen Grenzwerte anzuzweifeln und ein lobbyistisches Trommelfeuer ohnegleichen zu entfachen, besonders auf das für die Umsetzung zuständige Umweltministerium.
Der Gesetzgeber konnte aber auch nicht nichts tun. Mitte August dieses Jahres tritt, kommt keine nationale Regelung zustande, die EU-Richtlinie in Deutschland direkt in Kraft – in dem Fall würden für Großfeuerungsanlagen schärfere Schadstoff-Grenzwerte für Feinstaub, Quecksilber, Schwefel und Stickoxide gelten.
Nach Jahren des Streits legte das Ministerium Anfang Dezember 2020 den Entwurf einer Großfeuerungsanlagenverordnung vor, mit der unter anderem die 13. Bundesimmissionsschutzverordnung novelliert wird. Beim Quecksilber soll danach künftig für bestehende Anlagen mit mehr als 300 Megawatt Leistung ein Grenzwert von 0,004 Milligramm je Kubikmeter Abgas bei Steinkohle und 0,005 Milligramm bei Braunkohle gelten. Größeren Kohle-Altanlagen sollen bei gleicher Leistung 0,007 Milligramm zugestanden werden.
Der 0,007-Milligramm-Grenzwert für Altanlagen bedeutet: Die großen Braunkohleblöcke der RWE im Rheinland und der Leag in der Lausitz müssen ihre Quecksilberemissionen überhaupt nicht senken.
Die Anlagen, die trotz Kohleausstieg noch bis weit in die 2030er Jahre laufen, dürfen weiter jährlich hunderte Kilogramm des stark giftigen Metalls abgeben, wie der Emissionsexperte Christian Tebert vom Hamburger Ökopol-Institut in einer Anhörung Mitte Januar im Bundestags-Umweltausschuss kritisierte.
Voraussehbare Quittung für jahrelange Ignoranz
Die Verweigerungshaltung der Kohlekraftwerksbranche hält im Grunde bis heute an. In der Anhörung argumentierten verschiedene eher industrienahe Experten: Selbst wenn ab August EU-Recht direkt gelten sollte, würden die Kraftwerke so oder so noch Übergangsregelungen und -fristen benötigen, um die neuen Grenzwerte einzuhalten – am besten bis 2025.
De facto weiß allerdings die Branche seit 2016, dass die neuen EU-Grenzwerte kommen. Sie hat dennoch so gut wie nichts zu deren Einhaltung unternommen und fast nur blockiert. Dennoch zog die große Koalition es bis zur Bundesratssitzung vor, die Kraftwerke zu schützen und denjenigen zu folgen, die in der Anhörung die Immissionsbelastungen des Energiesektors als "meist unterhalb der Irrelevanzschwelle" abqualifizierten.
Für so viel Ignoranz gab es dann im Bundesrat die voraussehbare Quittung. Denn der Umweltausschuss der Länderkammer hatte Mitte März auf Antrag der elf grün regierten oder mitregierten Länder in seinen Empfehlungen den Grenzwert für Quecksilber spürbar verschärft: Die 0,007-Milligramm-Ausnahme soll wegfallen und die beiden anderen Grenzwerte für Kohlekraftwerke sollen drei Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung auf 0,002 Milligramm für Steinkohle und 0,003 Milligramm für Braunkohle sinken.
Die vom Ausschuss verlangten Änderungen haben nach den vorliegenden Informationen den Stellenwert eines sogenannten Maßgabeantrages. Das heißt, der Bundesrat hätte auf seiner 1002. Sitzung der Verordnung nicht ohne die verschärften Quecksilbergrenzwerte des Ausschusses zugestimmt. Die Bundesregierung beharrte ihrerseits offenbar auf den schwächeren Grenzwerten – damit war eine Ablehnung der Verordnung programmiert.
Um ein Scheitern in der Länderkammer zu verhindern, wurde die Großfeuerungsanlagenverordnung vor Sitzungsbeginn von der Tagesordnung genommen. Welches Bundesland dazu letztlich die Initiative ergriff – dazu gehen die Angaben auseinander. Als am wahrscheinlichsten gilt hier ein Engagement Nordrhein-Westfalens mit seinen stark betroffenen Kraftwerken.
Das bestätigte das Landesumweltministerium in Düsseldorf auf Anfrage nicht und erklärte nur, für eine "erfolgreiche Beschlussfassung" bestehe "weiterer Erörterungsbedarf". Das sei im Rahmen der Länderberatungen deutlich geworden. NRW strebe weiter eine "zeitnahe Klärung" und eine Zustimmung des Bundesrates zu der Verordnung an.
"Ein Armutszeugnis für die Umweltministerin"
Gelegenheiten zum Erörtern hat es aber schon genug gegeben – das Problem ist eher grundsätzlicher Natur. Nach Absetzung der Vorlage insistierte Baden-Württembergs grüner Umweltminister Untersteller, seit Wochen hätten die grünen Länder-Minister:innen gedrängt, in die Novelle strengere Grenzwerte aufzunehmen, und dazu schon im Januar Vorschläge gemacht. "Uns geht es um einen bestmöglichen Schutz der Gesundheit insbesondere von Kindern." Das sollte der Bundesregierung wichtiger sein als die finanziellen Interessen der Kohleindustrie.
Mit der Übergangsfrist von drei Jahren habe man den Unternehmen auch ausreichend Zeit für die technische Umsetzung zugestanden, so Untersteller. Die Bundesregierung müsse jetzt auf die Länder zugehen und in konstruktive Gespräche einsteigen.
Auch für Bettina Hoffmann, umweltpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, könnte der Ausstoß von giftigem Quecksilber mit der verfügbaren Technik deutlich gesenkt werden. "Aber die Bundesregierung will nicht mal das technisch Mögliche von den Betreibern einfordern", kritisiert sie. "Es ist ein Armutszeugnis, dass ausgerechnet die Umweltministerin beim Schutz von Umwelt und Gesundheit auf der Bremse steht."
Die Zeit für einen Kompromiss, ohne den es nicht gehen wird, läuft jedoch ab. Die Länder müssten jetzt erst einmal ihre Änderungsforderungen beschließen, dann müsste der Bundestag eine entsprechend geänderte Verordnung absegnen. Diese muss dann wieder von der Länderkammer bestätigt werden. Schaut man in den Kalender, müsste der Bundesrat spätestens in der Sitzung Ende Mai seine Forderungen beschließen, um bis Mitte August die nationale Umsetzung noch zu erreichen.
Anderenfalls dürfen von da an die in den Bundesländern jeweils zuständigen Behörden entscheiden, wie sie die Vorgaben der EU, die durchaus einen Spielraum lassen, interpretieren. Sie könnten dabei Ausnahmen und Übergangsfristen genehmigen – oder auch nicht.
Kann man sich aber vorstellen, dass Nordrhein-Westfalens CDU-Ministerpräsident Armin Laschet zulässt, dass die RWE-Kraftwerke wegen einer EU-Richtlinie "unrechtmäßig" betrieben werden?
Vielleicht ist die "Länderlösung" das, was den Kraftwerksbetreibern am Ende noch am besten passt.