Spannung vor der Anhörung: Sechs junge Portugies:innen werfen 32 europäischen Staaten vor, durch zögerlichen Klimaschutz ihre Menschenrechte zu verletzen. (Bild: Laura König)

Sechs junge Menschen aus Portugal gegen 32 europäische Staaten und ihre 80 Anwälte, und das vor dem höchsten europäischen Gericht. "Ich bin nervös und gleichzeitig hoffnungsvoll", sagt der 20-jährige Martim Duarte Agostinho, einer der Kläger. Zusammen mit seinen beiden Schwestern Mariana und Cláudia sowie mit Catarina Dos Santos Mota und den Geschwistern Sofia und André Dos Santos Oliveira, alle zwischen elf und 24 Jahren alt, steht er in Straßburg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Am Mittwoch begann die Anhörung zu ihrer Klimaklage, der bisher größten weltweit. Darin werfen die jungen Kläger:innen den 27 Mitgliedsstaaten der EU sowie Großbritannien, Russland, der Türkei, Norwegen und der Schweiz die Verletzung ihrer Menschenrechte vor, weil die Staaten ihren CO2-Ausstoß nicht schnell genug verringern und damit den Klimawandel weiter anheizen. 

Mit den drastischen Auswirkungen der Erderhitzung leben die fünf Freunde schon seit Jahren. Besonders schlimm war der Sommer 2017. Ihre Heimat Portugal erlebte damals verheerende Waldbrände, begünstigt durch eine Hitzewelle im Juni. Mehr als 100 Menschen kamen ums Leben, besonders viele in der Region Leiria, wo die Duartes leben.

Schlafstörungen, Allergien, Atembeschwerden und die ständige Angst vor weiteren Bränden bestimmen seither ihr junges Leben. Martim Duarte konnte wochenlang nicht zur Schule gehen. "Es geht hier nicht nur um uns, es geht darum, was unsere Generation für die Zukunft will, die hier aufs Spiel gesetzt wird", erklärt er.

Deshalb beschloss er 2020 gemeinsam mit seinen Freunden Klage einzureichen. Sie klagen dabei auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention und sehen konkret drei Menschenrechte verletzt: ihr Recht auf Leben, ihr Recht auf die Achtung des Privat- und Familienlebens sowie ihr Recht, nicht aufgrund ihres Alters diskriminiert zu werden. 

Menschenrechtskommissarin unterstützt Argumentation

Die Jugendlichen argumentieren, dass die Waldbrände und die erhöhten Temperaturen in ihrem Land die direkte Auswirkung des menschengemachten Klimawandels seien. Im Sinne der Menschenrechtskonvention seien sie Betroffene und Opfer: Die Folgen des Klimawandels gefährdeten ihre Gesundheit und ihr Leben unverhältnismäßig, gerade wegen ihres jungen Alters.

Verantwortlich dafür machen sie die 32 Staaten auf der Anklagebank, die ihren Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaschutzabkommen, die Erderhitzung deutlich unter zwei Grad zu halten, nicht nachkommen.

Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wird erstmals darüber verhandelt, ob die Staaten Europas mehr für den Klimaschutz tun müssen. (Bild: Laura König)

Die Beklagten halten dagegen: "Bloße Zufälle reichen nicht aus, es müssen kausale Zusammenhänge hergestellt werden, damit die Klage zulässig ist", argumentiert Ricardo Matos, der Portugal während der Anhörung vertritt. Er zweifelt an, dass die Kläger:innen direkte Opfer der globalen Erwärmung seien. Dafür gebe es keine Beweise. 

Alison Macdonald, eine der Klägeranwält:innen, verweist hingegen auf wissenschaftliche Beweise für den Klimawandel sowie auf bescheinigte Erkrankungen ihrer Mandant:innen, wie Asthma und Bronchitis. "Es macht sie nicht weniger zu Opfern, dass diese Risiken auch andere Menschen betreffen."

In ihrer Argumentation werden die jungen Portugies:innen von der Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, unterstützt. Die Kommissarin erinnert an die 2022 vom Europarat verabschiedete Resolution über das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt, die allerdings rechtlich nicht bindend ist. "Es ist entscheidend, dass junge Menschen, die von der globalen Erwärmung betroffen sind, gehört werden", betonte Mijatović vor den 17 Richter:innen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. 

Erkennt der Gerichtshof die Klage als zulässig an?

Klar ist: Diese Klimaklage ist historisch. Noch nie mussten sich so viele Staaten gleichzeitig vor einem internationalen Gericht für ihre Klimapolitik verantworten. Darin liegt jedoch gleichzeitig die Schwierigkeit. Normalerweise hätten die Kläger:innen zunächst alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausschöpfen müssen, stattdessen sind sie ohne Umwege direkt vor das höchste europäische Gericht gezogen. 

32 einzelne Verfahren in jedem Mitgliedsstaat durchlaufen zu müssen, wäre ein unzumutbarer Aufwand für die jungen Menschen gewesen und hätte ihre Rechte "in eine Illusion verwandelt", argumentiert Anwältin Macdonald. Entscheidend ist, ob der Gerichtshof die gemeinsame Verantwortung der 32 Staaten in Bezug auf den Klimawandel anerkennt und die Kläger:innen somit von der Verpflichtung entbindet, jeden Mitgliedsstaat einzeln zu verklagen. Nur dann ist ihre Klage zulässig. 

Gruppenfoto von zwei Bündnissen für Klimaklagen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
Die Schweizer Klima-Seniorinnen begrüßen die sechs portugiesischen Jugendlichen nach der Anhörung. (Bild: Laura König)

Anne Mahrer vom Verein Klima-Seniorinnen Schweiz kennt diese lange Prozedur. Sie saß im März dieses Jahres bereits dort, wo die sechs Portugies:innen an diesem Mittwoch sitzen. 2020 verklagte sie mit drei weiteren Seniorinnen ihr Heimatland, scheiterte vor den nationalen Gerichten und landete in letzter Instanz in Straßburg.

"Wir haben zum ersten Mal das Klima und die Grundrechte vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht", erklärt sie nun am Ort des Gerichts. "Ich bin sehr bewegt, wie bei unserer Anhörung im März, aber gleichzeitig voller Hoffnung, eine Mehrheit der Richter zu bekommen."

Noch nie hat der Gerichtshof über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschenrechte entschieden. Es gibt zwar laut UN-Statistik weltweit knapp 2.200 Klimaklagen, doppelt so viele wie noch 2017, aber davon haben es bisher nur zwölf nach Straßburg geschafft. Anfang dieses Jahres beschloss der Gerichtshof dann, drei dieser Fälle, darunter die Klage der jungen Portugies:innen und der Klima-Seniorinnen, als sogenannte impact cases einzustufen. 

"Die Richter:innen nehmen das Thema ernst"

Diese Möglichkeit wird genutzt, wenn ein Fall schwerwiegende Fragen zur Auslegung der Menschenrechtskonvention aufwirft. Das Gericht hat den drei Fällen somit einen besonders hohen Stellenwert eingeräumt und verhandelt sie im Schnellverfahren in der Großen Kammer.

"Das sind wirklich positive Zeichen. Das zeigt, dass sie das Thema ernst nehmen", sagt Gearóid Ó Cuinn, Leiter der britischen Nichtregierungsorganisation Global Legal Action Network, die die portugiesische Klage begleitet. "Das ist eine großartige Gelegenheit für das Gericht, uns alle vor der extremen Hitze zu schützen, der unsere Kläger:innen bereits heute ausgesetzt sind. Wenn wir erfolgreich sind, wird dies eine rechtlich bindende Entscheidung sein, die alle Regierungen zwingen wird, schnell und tiefgreifend ihre Treibhausgasemissionen zu senken."

 

Es ist davon auszugehen, dass der Menschenrechtsgerichtshof alle drei Urteile am selben Tag verkünden wird, damit ist jedoch frühestens in der ersten Jahreshälfte 2024 zu rechnen. Das Urteil wird dann wegweisend für alle weiteren Klimaklagen auf internationaler Ebene sein. 

Als die sechs Jugendlichen nach einem langen Anhörungstag vor den Gerichtssaal treten, sehen sie erschöpft und dennoch zufrieden aus. "Es ist sehr traurig, was wir heute von den Regierungsvertretern gehört haben. Sie verharmlosen die Auswirkungen des Klimawandels auf unsere Menschenrechte", sagt Cláudia Duarte. "Ich bin trotzdem zuversichtlich, dass das Gericht die Dringlichkeit unserer Lage versteht und zu unseren Gunsten entscheiden wird", ergänzt André Dos Santos Oliveira.