Im Juni dürfen 350 Millionen Bürger:innen der Europäischen Union ihre Stimme für ein neues EU-Parlament abgeben. Das Parlament wählt dann die EU-Kommission, so etwas wie das EU-Pendant zu einer nationalstaatlichen Regierung.
Einer Analyse der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) zufolge werden die "Klima- und Migrationskrise" die entscheidenden Wahlthemen sein. Viele Prognosen erwarten einen Rechtsruck im Europäischen Parlament, mit der konservativen EVP-Fraktion als stärkster Kraft.
Das sind keine guten Nachrichten für die europäische Klimapolitik. Um ihre Klimaziele zu erreichen, müsste die EU, heißt es in einem heute veröffentlichten Bericht des Europäischen Wissenschaftlichen Beirats, in allen Sektoren einen Zahn zulegen.
Die EU müsse ihre Treibhausgasemissionen doppelt so schnell senken wie in den vergangenen Jahren, um die Zielmarke für 2030 – 55 Prozent weniger Emissionen als 1990 – zu erreichen. Besonders in den Bereichen Verkehr, Gebäude und Land- und Forstwirtschaft seien dafür mehr Anstrengungen erforderlich.
Die Autor:innen loben zwar das "Fit for 55"-Paket, machen aber gleichzeitig deutlich, dass weitere Maßnahmen notwendig sind. Außerdem appellieren sie an die Mitgliedsländer, die bereits bestehenden EU-Vorgaben in nationale Gesetze zu gießen.
Die EU habe bereits große klimapolitische Fortschritte gemacht, sagte Ottmar Edenhofer, Vorsitzender des Beirats und Co-Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. "Aber das Erreichen der Klimaneutralität bis 2050 bleibt ein Wettlauf gegen die Zeit. Wir können es uns nicht leisten, uns zurückzulehnen."
Härteres Durchgreifen gegen EU-Mitgliedsländer
Das Fit-for-55-Paket ist das Herzstück der europäischen Klimapolitik. Mit dem 2021 vorgestellten Maßnahmenpaket sollen die im europäischen Klimagesetz verankerten Ziele erreicht werden: 55 Prozent Emissionsreduktion bis 2030 und Klimaneutralität 2050.
Das Paket umfasst alle zentralen Elemente der europäischen Klimapolitik wie den EU-Emissionshandel oder die Erneuerbare-Energien-Richtlinie. Viele der Maßnahmen müssen allerdings auf nationaler Ebene umgesetzt werden – so etwa die Lastenteilungsverordnung.
Darin legt die EU Minderungsziele für Sektoren fest, die nicht vom Emissionshandel abgedeckt werden. Das sind gerade die Problemsektoren Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft.
Um 40 Prozent gegenüber 2005 sollen die Emissionen dieser Sektoren bis 2030 gesenkt werden. Das ist nur zu verwirklichen, wenn alle EU-Länder entsprechend anspruchsvolle eigene Ziele verankern und Maßnahmen umsetzen.
Die Klimaexpertin Laura Diaz Anadon von der Universität Cambridge, stellvertretende Vorsitzende des Beirats erklärte dazu: "Das Erreichen von mindestens 55 Prozent Reduktion bis 2030 ist ein entscheidender Meilenstein auf dem Weg zu noch stärkeren Minderungen bis 2040 und Klimaneutralität spätestens 2050."
Der Wissenschaftliche Beirat empfiehlt in seinem Bericht, dass die EU "falls erforderlich" auch "Durchsetzungsmaßnahmen" ergreifen solle, um Mitgliedsländer an ihre Pflicht zu erinnern. Nach einer formellen Verwarnung würde das eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof bedeuten.
Großen Nachholbedarf sehen die Expert:innen bei der Landnutzung. Während die Emissionen der Landwirtschaft nicht sinken, könnten Europas Wälder immer weniger CO2 aufnehmen.
Um gegenzusteuern, müsse die EU die Förderung emissionsintensiver Praktiken wie Viehzucht beenden und stattdessen emissionsärmere Produkte und Praktiken unterstützen. Teil der Lösung könnte laut dem Bericht auch die Einführung eines Emissionspreises bei gleichzeitiger Belohnung für CO2-Aufnahme sein.
Bisher ist die Landwirtschaft bei allen Formen von Emissionshandel und -bepreisung ausgenommen.
Keine Bewegung bei den fossilen Subventionen
Dass all diese Maßnahmen nur mit einer sozialen Flankierung gelingen können, betont auch das Fachgremium. Eine gerechte Transformation "ist notwendig, um die öffentliche Unterstützung für Klimaschutzmaßnahmen aufrechtzuerhalten", schreiben die Expert:innen.
Sie empfehlen dafür eine systematische Erfassung der sozialen Auswirkungen von Klimaschutz, Umverteilungsmaßnahmen zur Unterstützung der besonders Betroffenen und eine Klimapolitik, die auf transparenten und partizipativen Prozessen beruht.
Der Beirat empfiehlt noch eine Handvoll weiterer Maßnahmen, darunter auch die vollständige Abschaffung fossiler Subventionen. In den letzten Jahren sind diese sogar noch gestiegen und liegen bei rund 50 Milliarden Euro pro Jahr.
Etwas vereinfacht lassen sich die Empfehlungen der Wissenschaftler:innen so zusammenfassen: Die Mitgliedsstaaten müssen ihre nationalen Gesetze und Maßnahmen endlich an EU-Vorgaben anpassen. Die Verhandlungen zu einigen EU-Verordnungen müssen schnell zu Ende gebracht werden. Schon jetzt muss an einem politischen Rahmen für die Zeit nach 2030 gearbeitet werden.
Darunter fällt unter anderem die Anpassung des Emissionshandels an die angestrebte Klimaneutralität. Bisher gibt es noch keine Strategien, wie das System darauf vorbereitet werden soll, dass dem Emissionsmarkt irgendwann keine Emissionsrechte mehr zugeteilt werden.
Der Europäische Wissenschaftliche Beirat zum Klimawandel ist ein unabhängiges Gremium und wurde 2021 gegründet. Die 15 Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Disziplinen beraten die EU in allen Fragen rund um den Klimawandel.
Gemäß ihrer Selbstbeschreibung identifizieren sie Maßnahmen und Möglichkeiten, um das EU-Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen.