Eine kleine Oktopus-Art ermöglicht es Forscher:innen, einen Blick in die Vergangenheit des Westantarktischen Eisschildes zu werfen. Der Turquet-Oktopus (Pareledone turqueti) – ein Krake mit einer Mantellänge von nur 15 Zentimetern – bewohnt seit rund vier Millionen Jahren die Randmeere der Antarktis.
Eine überwiegend australische und neuseeländische Forschungsgruppe untersuchte nun 96 Exemplare des Oktopusses aus dem Weddellmeer, dem Rossmeer und der Amundsensee. In diesen Randmeeren leben heute durch die Eismassen des Westantarktischen Eisschildes voneinander isolierte Populationen.
Eine genetische Analyse der Achtarmigen zeigte "anhaltende, historische Signale des Genflusses" zwischen den Populationen. Das sei ein empirischer Beweis dafür, so die Autor:innen, dass der Westantarktische Eisschild während des letzten Interglazials zusammengebrochen sei.
Die Studie ist im Fachjournal Science erschienen. Dafür sequenzierten die Wissenschaftler:innen die in den Genomen der Kraken vorkommenden Einzelnukleotid-Polymorphismen, kurz SNPs. SNPs sind vererbbare genetische Variationen im Erbgut.
Anhand der Ergebnisse konnte das interdisziplinäre Team um die Meeresforscherin Sally Lau von der australischen James-Cook-Universität eindeutig eine gemeinsame genetische Vergangenheit feststellen.
Diese genetischen Verbindungen zwischen den Populationen der drei Randmeere – obwohl diese auf gegenüberliegenden Seiten des Eisschildes liegen – könnten nicht durch einen genetischen Austausch entlang der Meeresströmungen um die Antarktis erklärt werden, sagt Lau im Gespräch mit Klimareporter°.
"Die einzige Möglichkeit, wie die Verbindungen zwischen Weddell-, Amundsen- und Rossmeer zustande kommen konnten, besteht darin, dass der Westantarktische Eisschild zuvor vollständig zusammengebrochen war", so die Forscherin. "Dadurch wären die drei Meere direkt miteinander verbunden gewesen."
Stabilität der Westantarktis auch bei 1,5 Grad gefährdet
Eine demografische Modellierung der Populationen legt nahe, dass der genetische Austausch während des letzten Interglazials geschehen ist, der sogenannten Eem-Warmzeit. Diese begann vor rund 129.000 Jahren und dauerte etwa 13.000 Jahre an. Damals herrschten auf der Erde zwischen 0,5 und 1,5 Grad höhere Temperaturen als um das Jahr 1800, also vergleichbar mit heutigen Durchschnittstemperaturen, die rund 1,4 Grad über denen zu vorindustrieller Zeit liegen.
Die Erkenntnis, dass der Westantarktische Eisschild während der letzten Warmzeit zusammengebrochen ist, hat eindeutige Implikationen für die Gegenwart. Sally Lau: "Die Studie liefert Belege dafür, dass der Kipppunkt des Westantarktischen Eisschildes beim derzeitigen Pfad der Erderwärmung nahe ist."
Ob der Kipppunkt schon überschritten ist, ist wissenschaftlich umstritten. Allerdings häufen sich die Belege, dass selbst unter optimistischen Klimaszenarien das Schmelzen in der Westantarktis auf absehbare Zeit nicht aufzuhalten ist.
Eine im Oktober veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass selbst bei Einhaltung des 1,5-Grad-Limits die Stabilität der Westantarktis gefährdet wäre. Grund dafür ist vor allem das Schelfeis, dessen vollständiges Abschmelzen sich laut der Studie nicht mehr stoppen lässt.
Schelfeis bremst das Abfließen des Landeises und stützt damit den gesamten Eisschild.
Die Westantarktis gehört zu den Regionen, die am schnellsten an Eis verlieren und am stärksten zum weltweiten Meeresspiegelanstieg beitragen. Zwischen 1979 und 2017 schrumpfte der Eisschild jährlich um 160 Milliarden Tonnen, Tendenz steigend.
Bei zwei Grad Erwärmung zwölf bis 20 Meter Meeresspiegelanstieg
Um fünf Meter würden die Weltmeere bei einem kompletten Kollaps des Westantarktischen Eisschildes ansteigen. Während der letzten Warmzeit mit ihren vergleichbaren globalen Durchschnittstemperaturen lag der Meeresspiegelanstieg sogar zwischen fünf und zehn Metern.
Der neueste internationale Bericht zum Zustand der Kryosphäre – der Gesamtheit des auf der Erde vorkommenden Eises – findet deshalb zum 1,5-Grad-Limit deutliche Worte. "Aus Sicht der Kryosphäre ist 1,5 Grad nicht einfach zwei Grad oder mehr vorzuziehen, sondern es die einzige Option."
Sollte sich die Erderwärmung auf zwei Grad über vorindustriellem Niveau einpendeln, würde der Meeresspiegelanstieg langfristig zwischen zwölf und 20 Metern liegen, schließt der im November veröffentlichte Bericht aus den neuesten Studien des vergangenen Jahres.
Selbst bei optimistischen Szenarien mit einer Erwärmung, die bei 1,8 Grad ihren Höhepunkt erreicht und sich schließlich auf 1,6 Grad einpendelt, hält der Anstieg des Meeresspiegels noch für mehrere Jahrhunderte an.
Viele Wissenschaftler:innen gehen mittlerweile davon aus, dass bei zwei Grad – und möglicherweise schon vorher – der gesamte Grönlandeisschild sowie der allergrößte Teil des Westantarktischen Eisschildes und auch die gefährdetsten Teile der Ostantarktis abschmelzen.