Glaubt man vielen Schlagzeilen, ist die Digitalisierung Vorbote des nahenden Weltuntergangs. Lernende Systeme vernichten Arbeitsplätze, liefern uns Fake News nach Hause und versuchen uns wie im Fall von Youtube zu manipulieren, indem sie uns immer extremere Meinungen und Inhalte präsentieren – nur damit wir der Plattform treu bleiben.
Die treibende Kraft hinter der Technologieentwicklung ist schon lange nicht mehr die Wissenschaft. Es sind die global aktiven US-amerikanischen Tech-Giganten Google, Microsoft, Amazon, Facebook, Intel und Apple – von der Zukunftsforscherin Amy Webb ironisch mit dem Akronym G-MAFIA bedacht –, die weltweite Standards setzen und dabei bisher weitgehend unreguliert agieren konnten.
Diese Dominanz der Tech-Unternehmen verstärkt ein bestehendes Ungleichgewicht: Die Tech-Branche schafft gut bezahlte Stellen vor allem in den Industrienationen, während sie prekäre und oft psychisch belastende Jobs für sogenannte Clickworker vor allem in Ländern des globalen Südens übrig hat, wie es die Reportage "The Cleaners" (2018) eindrücklich zeigt. Die Industrie ist zudem weiß und männlich dominiert.
So verwundert es nicht, dass viele digitale Lösungen für Menschen, die sich von den Entwicklern unterscheiden, nicht funktionieren oder sie sogar marginalisieren und gefährden: Algorithmen bevorzugen jüngere und männliche Bewerber bei Jobangeboten; Algorithmen im US-amerikanischen Rechtssystem diskriminieren people of color; in den App-Stores häufen sich Anwendungen, um andere Menschen bloßzustellen, zu stalken und zu erniedrigen – ihre Opfer sind meist Frauen.
Auch ökologisch wiegt die Digitalisierung schwer. Wie die Klimaschutzorganisation Shift Project errechnet hat, produzierte der Stromverbrauch, der im letzten Jahr weltweit allein für das Streaming von Videos in den Rechenzentren von Netflix, Youtube, Amazon und Co anfiel, 300 Millionen Tonnen CO2. Das entspricht immerhin einem Drittel der jährlichen Emissionen Deutschlands.
Digitalisierung als öffentliche Aufgabe
Wenn die Digitalisierung derzeit nicht dazu beiträgt, eine gerechte, enkeltaugliche Welt zu schaffen, dann hat das vor allem einen Grund: Wir alle nehmen zu wenig Einfluss darauf, wie Technologieentwicklung gestaltet wird. Und genau hier liegen die Chancen der Digitalisierung: Mit ihr können wir gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung für alle verbessern und neu denken.
Wie das gehen kann, zeigt die Welt der freien und quelloffenen Software. Hier entwickeln Menschen gemeinschaftlich und transparent digitale Anwendungen und offene Infrastruktur – jede und jeder kann den Quellcode einsehen, Mängel erkennen und beheben. Diese Offenheit schafft Vertrauen in digitale Anwendungen, das wir den proprietären Anwendungen von Microsoft und Co nicht entgegenbringen sollten.
Elisa Lindinger
forscht zu sozialen Einflussfaktoren auf die Entwicklung offener Infrastrukturen und leitete bei der Open Knowledge Foundation Deutschland das erste deutsche Förderprogramm für Open‑Source‑Projekte.
Außerdem steht freie und offene Software unter Lizenzen, die es anderen erlaubt, sie weiterzuentwickeln. Ihre Entwickler und Entwicklerinnen leisten so einen enormen Beitrag zur globalen Wissensallmende und ermöglichen es Menschen überall auf der Welt, auf ihrer Arbeit aufzubauen, existierende Anwendungen zu verbessern und für eigene Bedürfnisse anzupassen.
Viele offene Anwendungen setzen außerdem auf Dezentralisierung: Das bedeutet nicht nur, dass statt eines Unternehmens viele Menschen sie betreiben können, sondern auch, dass es schwieriger wird, große Datenmengen anzuhäufen.
Was ist also zu tun, wenn wir die Digitalisierung als treibende Kraft für die sozial-ökologische Transformation nutzen wollen? Wir müssen digitale Anwendungen finanziell unterstützen, die auf europäische Werte wie Datenschutz, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und digitale Selbstbestimmung setzen. Dafür müssen wir uns vom Wunsch nach einer europäischen Kopie des Silicon Valley verabschieden – nicht, weil wir nicht mithalten können, sondern weil wir es besser machen wollen.
Bewusste Nutzungsentscheidungen
Aber auch wir als Nutzerinnen und Nutzer können Einfluss auf die Technologieentwicklung nehmen. Denn unser digitaler Konsum hat reale Auswirkungen, über die wir noch viel zu wenig öffentlich diskutieren. Hier müssen wir lernen, genau hinzusehen, bewusste Konsumentscheidungen zu treffen und diese auch anderen zu ermöglichen:
Wir können die Betreiber digitaler Dienste auffordern, auf Ökostrom zu setzen und ihre Klimabilanz transparent zu machen, wir können uns für Anbieter entscheiden, die nach der europäischen Datenschutz-Grundverordnung arbeiten und unsere Daten nicht widerrechtlich weitergeben, und wir können uns dafür stark machen, dass technische Systeme nicht bestimmte Gruppen von Menschen diskriminieren – auch und gerade dann, wenn wir selbst nicht davon betroffen sind.