Steckdose
Die Vermarkter des "Stromspiegels" nehmen es mit der Realität eines Durchschnittshaushalts nicht so genau. (Foto: Markus Spiske/​Pixabay)

Die Schlagzeile passt gut in die Zeit. Die Bundesbürger, die sich immer noch für große Klimaschützer halten, fliegen bekanntlich ohne schlechtes Gewissen, verschmähen E-Autos und lassen Bio links liegen – und nun auch das noch: "Deutsche verschwenden jährlich neun Milliarden Euro" – und zwar bei dem Stromkosten, titelte etwa Spiegel Online vorletzte Woche.

Und der Clou: Würden sich die Stromkunden diese Milliarden sparen, könnten die CO2-Emissionen der privaten Haushalte um gut 18 Millionen Tonnen jährlich sinken, zitierte das Nachrichtenmagazin vorab aus dem am selben Tag erschienenen Pressetext zum "Stromspiegel 2019". Einschlägige Verbände und Institute veröffentlichen diese Analyse jährlich im Portal CO2 online.

Die 18 Millionen Tonnen sind laut der Pressemitteilung des Stromspiegels mit dem jährlichen CO2-Ausstoß des Braunkohlekraftwerks Weisweiler bei Aachen vergleichbar, das zu den fünf klimaschädlichsten Kraftwerken Europas zählt. Deutlicher kann man die Botschaft kaum durchklingen lassen: Fragt man sie, sind die meisten Deutschen für einen schnellen Kohleausstieg, beim Stromverbrauch aber aasen sie herum und belasten das Klima.

Wie aber kommt der Stromspiegel auf solch beeindruckende Zahlen? Nehmen wir einmal das – auch vom Nachrichtenmagazin aufgegriffene – Beispiel eines Zwei-Personen-Haushalts in einem Mehrfamilienhaus, der sein Wasser mit Strom erwärmt und 3.500 Kilowattstunden pro Jahr verbraucht. Geldliches Sparpotenzial: 400 Euro!

3.500 Kilowattstunden sind ein ziemlich hoher Verbrauch. 2016 lag laut Statistischem Bundesamt der jährliche Stromverbrauch der Haushalte im Schnitt bei 2.800 Kilowattstunden. Selbst wenn diese eine E-Heizung nutzten, kamen sie kaum über 3.000 hinaus.

Überraschende Beispielrechnung

Der Stromspiegel geht anders vor. Er teilt die Verbraucher – auf Grundlage von repräsentativen Daten von 226.000 Haushalten – in sieben Klassen ein: von A (die beste, kein Sparpotenzial) bis hin zu G (die schlechteste, sehr großes Sparpotenzial). Zwei Personen in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, die ihr Warmwasser mit Strom erhitzen, landen bei 2.000 Kilowattstunden Jahresverbrauch in der besten Klasse A – und ab 4.100 Kilowattstunden in der schlechtesten Klasse G.

Mit den beispielhaften 3.500 Kilowattstunden kommt man in die Klasse E, die fünfte Kategorie. E-Haushalte verbrauchen "mehr Strom als jeder zweite vergleichbare Haushalt", erklärt der Stromspiegel. Anders gesagt: Die Hälfte der Haushalte befindet sich schon mal in den besseren Kategorien A, B, C und D.

Der sogenannte statistische Median bei den Zwei-Personen-Wohnung-Strom-Warmwasser-Haushalten liegt bei 3.000 Kilowattstunden jährlich. Das bedeutet: Genau 50 Prozent dieser Haushalte verbrauchen weniger als die 3.000 Kilowattstunden, die anderen 50 Prozent verbrauchen mehr.

Warum wählt man dann als Presse-Beispiel einen Haushalt mit 3.500 Kilowattstunden aus? "Dies soll zeigen, dass Haushalte, die etwas über dem Median liegen, ein großes Sparpotenzial haben", erläutert Boris Demrovski, Projektleiter des Stromspiegels, gegenüber Klimareporter°.

Schöne Logik: Haushalten, die vergleichsweise viel Strom verbrauchen, kann man öffentlichkeitswirksam dann auch viel Einsparung berechnen.

"Wir sind fiktiv überall von Klasse A ausgegangen"

Die 400 Euro klingeln aber nur dann in der Kasse, wenn der Zwei-Personen-Wohnung-Strom-Warmwasser-Haushalt aus der E-Kategorie in die beste, die A-Kategorie, aufsteigt und damit sein gesamtes Sparpotenzial ausschöpft. Diese Annahme trifft der Stromspiegel übrigens kurzerhand für alle Haushalte, wie Demrovski bestätigt. "Wir sind fiktiv davon ausgegangen, dass die jeweiligen Haushalte in den einzelnen Haushaltstypen das Potenzial ausschöpfen, um in Klasse A zu landen."

Das heißt nichts anderes als: Nur wenn alle Haushalte in Deutschland ihren jetzigen Stromverbrauch auf das A-Niveau reduzieren, kommen rechnerisch die neun Milliarden Euro zusammen.

Wer will, kann das selbst nachrechnen. Konkret beläuft sich die Strom-Einsparung, wenn alle Haushalte auf A-Niveau sind, Demrovski zufolge auf rund 33,5 Milliarden Kilowattstunden jährlich. Der Stromspiegel veranschlagt dabei als Kosten für eine Kilowattstunde nur den Arbeitspreis von 27 Cent.

Warum? Real liegt der Preis für die Kilowattstunde für Haushalte bekanntlich schon jenseits der 30 Cent. Der Stromspiegel zieht davon aber den sogenannten Grundpreis von etwa 3,5 Cent ab. Denn der Grundpreis wird einem allein dafür berechnet, dass Strom aus der Steckdose kommt, den kann man also nicht wegsparen.

Kaufpreis fürs neue Gerät fällt unter den Tisch

Ist schon die Annahme, alle Haushalte würden so viel Strom sparen, dass sie in der A-Klasse landen, recht "fiktiv", fällt bei den neun Milliarden Euro ein Faktor gänzlich unter den Tisch. Das ist der finanzielle Aufwand, den Haushalte treiben müssen, wenn sich das Stromsparen nicht auf Licht ausschalten, das Abschaffen überflüssiger Geräte oder das Herunterdrehen des Thermostaten beschränken soll.

Nach Angaben des Stromspar-Speicherrechners des Öko-Instituts kostet es Haushalte zwischen fünf Cent (für "geringinvestive Maßnahmen") und 1,20 Euro (für größere Investitionen), um dauerhaft eine Kilowattstunde Strom einzusparen. Diese Kosten werden bei den "plakativen Beispielen" in der Pressemitteilung zum Stromspiegel tatsächlich nicht berücksichtigt, räumt Demrovski ein.

Auf seiner Website schiebt der Stromspiegel das Problem nicht beiseite. So finden sich dort Erläuterungen, wann sich der Neukauf eines sparsameren Geschirrspülers lohnt. Als Faustregel gilt demnach: Ist das Altgerät mehr als zehn Jahre alt, dann deckt die Ersparnis durch den geringeren Energieverbrauch des Neugeräts die Anschaffungskosten in der Regel nach einigen Jahren. Man muss natürlich ein Gerät der höchsten Energieeffizienzklasse anschaffen.

Wer lässt sich so zum Stromsparen animieren?

Nach alldem ist aber ziemlich klar: Die neun Milliarden, die die Deutschen bei den Stromkosten angeblich verschwenden, sind eine fiktive Zahl – und in dem Fall nicht schön-, sondern schlimmgerechnet.

Das gilt auch für die 18 Millionen Tonnen CO2-Einsparung. Die ergeben sich nur, wenn man die "fiktiv" eingesparten 33,5 Milliarden Kilowattstunden mit dem 2017er Emissionsfaktor für den im Inland verbrauchten Strom multipliziert, das sind 537 Gramm CO2 je Kilowattstunde.

Ob solche grün gefärbten Übertreibungen wirklich eine glaubwürdige Werbung fürs Stromsparen hergeben, mag jeder selbst beurteilen.

Offen bleibt darüber hinaus die Frage, ob ein geringerer Stromverbrauch der Haushalte überhaupt eine geringere Erzeugung nach sich zöge. RWE jedenfalls würde sein Kraftwerk Weisweiler wohl nicht vom Netz nehmen, nur weil die Verbraucher mal ein paar Milliarden Kilowattstunden einsparen.

Allerdings ließe sich daraus eine schöne Aktion entwickeln: RWE könnte ja verpflichtet werden, einen Kohleblock vom Netz zu nehmen, wenn die Haushalte dessen Emissionen real und nicht nur irgendwie "fiktiv" eingespart haben. Das wäre mal ein mächtiger Anreiz zum Stromsparen, der übers Geld hinausginge.

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