Der Palace of Westminster ist der Sitz des britischen Parlaments in London. (Bild: Skeeze/​Pixabay)

Unerhört viel hatten Möbelpacker:innen in letzter Zeit in der Downing Street zu tun, am Amtssitz des britischen Regierungschefs. In den letzten acht Jahren drückten sich fünf konservative Premierminister:innen die Klinke in die Hand.

Zuletzt übernahm im Oktober 2022 Rishi Sunak das Amt von seiner Kurzzeit-Vorgängerin Liz Truss. Diese hatte nach nur 45 Tagen ihren Rücktritt erklärt, unter anderem wegen einer umstrittenen Steuerreform, die vor allem Steuersenkungen für Wohlhabende und Unternehmen vorsah und der Conservative Party historisch niedrige Umfragewerte einbrachte.

Während die sozialdemokratische Labour Party während Truss' Amtszeit zeitweilig 30 Prozentpunkte vor den Tories lag, haben sich die Umfragetäler und -spitzen inzwischen wieder etwas geglättet. Mit 44 zu 23 Prozent liegt Labour aber nach wie vor deutlich vorn.

Bis zu den kommenden Unterhauswahlen kann natürlich noch einiges passieren – nicht zuletzt, weil immer noch nicht feststeht, wann genau sie stattfinden werden. Die einzigen Anhaltspunkte sind, dass Rishi Sunak erklärt hat, die Wahlen in der zweiten Hälfte dieses Jahres abhalten zu wollen, und dass der Premierminister rechtlich verpflichtet ist, sie vor dem 28. Januar 2025 stattfinden zu lassen.

Die alles dominierende und populistisch geführte Debatte bei den letzten Wahlen 2019 drehte sich um den Brexit beziehungsweise seine Ausgestaltung. Wohl oder übel – dieser Drops ist gelutscht und macht somit Platz für neue Wahlkampfthemen.

Zum ersten Mal könnte Klimapolitik, neben Dauerbrennern wie Wirtschaftswachstum, Immigration und Gesundheitsversorgung, eines der entscheidenden Wahlthemen werden. Besonders unter Liz Truss und Rishi Sunak hat die Klimapolitik des Landes gewaltig gelitten.

Die Forschungsinitiative Climate Action Tracker schätzt die zu erwartenden Treibhausgasemissionen Großbritanniens im Jahr 2030 um 16 bis 19 Prozent höher ein als noch vor einem Jahr. "Die jetzige Regierung macht die lange beanspruchte klimapolitische Vorreiterrolle Großbritanniens zunichte, indem sie eine Kehrtwende bei einer Reihe wichtiger Maßnahmen vollzieht", kommentiert die Initiative diese Entwicklung.

Hunderte neue Lizenzen für Öl- und Gasbohrungen

Tatsächlich schneidet Großbritannien im internationalen Vergleich klimapolitisch ziemlich gut ab – wobei auch das Vereinigte Königreich nie auf einem 1,5-Grad-Kurs war. Vor einigen Wochen verkündete die Regierung stolz, dass das Land als erste große Wirtschaftsnation seine Emissionen gegenüber 1990 halbieren konnte.

In Deutschland lag dieser Rückgang 2023 bei 46 Prozent.

Das Königreich hat in den vergangenen Jahren das Offensichtliche getan – Kohlekraftwerke stillgelegt und dafür erneuerbare Energien ausgebaut. In anderen Sektoren ist dagegen erst wenig passiert. Das britische Klima-Beratungsgremium Committee on Climate Change erklärte noch im vergangenen Juni, dass die Regierung die Emissionsminderung außerhalb des Stromsektors vervierfachen müsse, um ihr Ziel für 2030 – 68 Prozent Reduktion gegenüber 1990 – zu erreichen.

Superwahljahr 2024

In dieser Serie setzt sich Klimareporter° mit den klimapolitischen Implikationen der anstehenden Wahlen auseinander. Welche Tendenzen lassen sich erkennen, welche Rolle spielt das Klima und welche Konsequenzen lassen sich daraus ziehen? Und letztendlich die immer mitschwingende Frage: Sind unsere etablierten Politsysteme fähig, mit der Klimakrise umzugehen?

Anstatt nach dieser Warnung zur Tat zu schreiten, vollzog Großbritannien unter Sunaks Kabinett vergangenes Jahr in mehreren Bereichen eine "Kehrtwende", wie der Climate Action Tracker richtig analysiert.

Ein Verbot fossiler Verbrenner-Autos schob Sunak von 2030 auf 2035, wodurch die Verkaufszahlen bei E‑Autos einbrachen. Auch mit dem Übergang von Gasheizungen zu Wärmepumpen hat es die Regierung nicht mehr ganz so eilig. Statt des bisherigen Ziels, ab 2035 keine neuen Gasheizungen mehr einzubauen, soll die Zahl neu installierter Gasheizungen nun lediglich um 80 Prozent reduziert werden.

Nicht zuletzt kündigte der ehemalige Hedgefonds-Manager Sunak an, Hunderte neue Lizenzen für Öl- und Gasbohrungen in der Nordsee vergeben zu wollen.

In einer Rede versprach der Konservative nur, dass er grüne Industrien und Innovationen in neue Technologien stärken wolle. Das klingt wie das altbekannte Hoffen auf ominöse Zukunftstechnologien, die dann schon alles richten werden – und überzeugt offensichtlich auch die Wähler:innen nicht.

Diverse Umfragen legen nahe, dass der reaktionäre Klimakurs die gegenwärtige Administration einiges an Zustimmung gekostet hat. Eine von Greenpeace in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage ergab, dass Klimapolitik für 70 Prozent der Wähler:innen ein wichtiges Thema ist.

Verliert Labour den linken Flügel?

Die Tories bieten der Labour Party und ihrem Parteichef und Spitzenkandidaten Keir Starmer also klimapolitisch jede Menge Angriffsfläche. Zwar versuchen die Konservativen, den Spieß umzudrehen und Labour als radikale Ökos hinzustellen, doch bisher mit bescheidenem Erfolg.

Zumal Starmers Vorhaben keineswegs radikal sind und er sie aus Angst, selbst eine Angriffsfläche zu bieten, auch schon wieder deutlich heruntergeschraubt hat. So warb er vor wenigen Monaten noch damit, jedes Jahr 35 Milliarden Pfund in den Klimaschutz investieren zu wollen. Mittlerweile ist diese Zahl auf 30 Milliarden über die gesamte Legislatur, also fünf Jahre, geschrumpft.

Trotzdem: Labour will das Stromsystem bis 2030 komplett dekarbonisieren und alle neuen Öl- und Gas-Konzessionen zurücknehmen. Außerdem will die Partei mit GB Energy ein grünes Energieunternehmen in öffentlicher Hand gründen.

Der Vorwurf der Radikalität gegenüber Labour hat auch deshalb gegenwärtig so wenig Griff, da die Partei unter Keir Starmer deutlich in die politische Mitte gerückt ist. Während sein Vorgänger Jeremy Corbyn für eine linke Sozialdemokratie stand, scheint Starmer in erster Linie Pragmatiker zu sein.

Beispiele dafür sind das abgespeckte Klima-Investitionsprogramm, die Streichung der Labour-Forderung, Studiengebühren abzuschaffen, sowie Starmers Vorstoß, den Einfluss der Labour-Basis – die in der Regel linker ist als die Abgeordneten – zu beschränken. In der Folge kam es beim linken Flügel zu zahlreichen Parteiaustritten.

"Die Realität wird schmutziger und deprimierender"

Neben den beiden Volksparteien, die vom britischen Mehrheitswahlrecht profitieren, gibt es etliche weitere Akteure, die die Klimadebatte mitbestimmen. Die Grüne Partei hat in den jüngsten Kommunalwahlen deutlich zugelegt.

Auch zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen beeinflussen die Parlamentswahlen indirekt über ihre Diskursmacht mit. Besonders prominent sind darunter Extinction Rebellion und Just Stop Oil, die durch ihre Aktionen dauerpräsent sind.

Die britische Wetterbehörde Met Office prognostiziert bis zu 60 Prozent trockenere und bis zu sechs Grad wärmere Sommer in Großbritannien. Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Folgen des Klimawandels und der Notwendigkeit radikaler Klimapolitik wäre also auch im Königreich angebracht.

 

Optimist:innen könnten auf eine "belebende Debatte über die nächste Welle der Klimapolitik" im Wahlkampf hoffen, heißt es in einem Kommentar in der internationalen Wochenzeitung The Economist mit Sitz in London.

"Die Realität wird mit ziemlicher Sicherheit schmutziger und deprimierender sein. Jeder wird die Tories als mutwillige Umweltverschmutzer angreifen. Die Tories werden behaupten, Labour kümmere sich mehr um die Umwelt als um die Nöte der Durchschnittswähler. Und der politische Konsens, der einst beim Klimaschutz herrschte, wird weiter bröckeln."