Klimareporter°: Herr Jackson, seit dem berühmten Stern-Report von 2006 dominiert ein Gedanke die Klimadebatte: Die Weltwirtschaft kann weiter wachsen und wir werden mit den richtigen Technologien trotzdem den Planeten retten. Sie werben stattdessen für eine Abkehr vom Wachstum. Sind die anderen Studien falsch?
Tim Jackson: Sie sind nur in gewisser Weise falsch. Ich bin nicht dagegen, die Notwendigkeit oder das theoretische Potenzial der Entkopplung von Wachstum und Treibhausgas-Emissionen zu benennen. Ich bin auch nicht gegen neue Technologien. Meine eigene Arbeit hat vor 30 Jahren eigentlich genau an diesem Punkt angefangen: Ich habe erkannt, dass es Technologien gibt, die unseren Druck auf den Planeten stark vermindern können. Irgendwann sah ich mich um und dachte: Aber warum passiert das nicht oder zumindest nicht genug? Und das ist die Frage, die in diesen ganzen Studien fehlt, wenn sie sonst auch richtig sind.
Sie plädieren nicht für Wachstum, aber für mehr Wohlstand. Was meinen Sie damit?
Es geht mir darum, Wohlstand anders zu fassen, als das die meisten Ökonomen tun. Ich habe Leute auf der Straße gefragt, was sie für Wohlstand halten, ich habe mit Philosophen, Psychologen, Künstlern und Schriftstellern gesprochen. Und es kam Erstaunliches heraus: Alle diese Gruppen sehen Wohlstand nicht nur in Geld und Einkommen, sondern als sehr weit gefasstes Konzept.
Wohlstand hat mit Identität zu tun, mit Zielen, mit gutem Zusammenleben, mit der Gesundheit unserer Familien, mit Teilhabe an der Gesellschaft. Man könnte vielleicht sagen: Wohlstand ist die Fähigkeit, als Mensch zu erblühen. Wir sind kulturell darauf getrimmt, dass man zufriedener wird, indem man immer mehr hat – das ist aber eine Täuschung. Es geht um mehr Freude mit weniger Zeug.
Viele Menschen auf der Welt können gar nicht "weniger Zeug" haben. Sollen auch Entwicklungsländer nicht mehr wachsen?
Natürlich kann man es den Ärmsten auf der Welt nicht verbieten, ein besseres Leben aufzubauen! Wenn man die Pro-Kopf-Einkommen von unter 5.000 US-Dollar im Jahr auf, sagen wir, 15.000 erhöhen könnte, hätte das einen enormen sozialen Fortschritt zur Folge: Es würde die Lebenserwartung erhöhen, die Kindersterblichkeit stark senken, den Zugang zu Bildung erleichtern – man könnte all die Dinge erreichen, die wirklich wichtig sind. Da bringt Wirtschaftswachstum also wirklich noch etwas.
Ich war übrigens überrascht, dass auch in Entwicklungsländern einige meine Ideen aufgegriffen haben. Und was ich seitdem festgestellt habe: Es herrscht vielerorts der Wille, nicht so zu werden wie der Westen und deshalb gerade nicht auf ein Wirtschaftsmodell zu setzen, das ohne Wachstum gar nicht auskommt.
Und wie kommen wir im Westen auf den richtigen Pfad?
Besonders in der neuen Ausgabe von "Wohlstand ohne Wachstum" habe ich Kernbereiche ausgelotet, in denen wir umdenken müssen: Unternehmen, Arbeit, Investitionen und Geld. Diese Begriffe sind verdreht worden, sie wirken im herrschenden Wirtschaftssystem geradezu giftig. Unternehmen dienen der Profitmaximierung, Arbeit ist Lohnsklaverei, Investitionen sind Glücksspiele, Geld ist Macht.
Wir brauchen eine Umdeutung: Unternehmen sollen wieder den Menschen dienen, Arbeit soll Teilhabe an der Gesellschaft bedeuten, Investitionen ein Engagement für die Zukunft und Geld ein öffentliches Gut sein.
Wie kann diese Umdeutung sich in realen Veränderungen niederschlagen?
Man braucht die veränderte Denkweise, um die richtigen Fragen zu stellen: Welche perversen Anreize führen momentan dazu, dass beispielsweise Unternehmen in erster Linie nach Profit streben?
Zur Person
Tim Jackson ist Professor an der Universität Surrey bei London. Er leitet zudem das interdisziplinäre Forschungszentrum für nachhaltigen Wohlstand. Jacksons Buch "Wohlstand ohne Wachstum" von 2009 wurde zum Klassiker der Umweltökonomie. Jetzt hat er ein "Update" vorgelegt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Die heutige Lohnpolitik steht einer fairen Wirtschaftsweise im Weg. Maßstab ist im Normalfall zurzeit die Arbeitsproduktivität. Das führt zu einer Jagd danach, die Effizienz zu erhöhen, um den Profit zu steigern. Das ist schlecht für die Umwelt, es drängt den arbeitenden Menschen aus dem Mittelpunkt und funktioniert außerdem in bestimmten Bereichen überhaupt nicht. Sorgearbeit, Bildung, Kunst und echtes Handwerk erfordern einfach Zeit. Diese Sektoren leiden unter dem falschen Anreiz, mehr in weniger Zeit zu schaffen.
Was lässt sich dem entgegensetzen?
Wenn wir bei der Lohnpolitik bleiben: Statt nach der Produktivität zu gehen, sollte die Zeit honoriert werden, die jemand in seine Arbeit gesteckt hat. Im Allgemeinen müssen wir anerkennen, dass wir durch unsere Politik – Steuern, Gesetze, Gesetzeslücken – in jedem Fall, auch jetzt schon, systematisch Dinge fördern und andere untergraben.
Ein anderes Beispiel ist eine ganz einfache Weisheit: Das Schlechte besteuern, nicht das Gute! Die Subventionen für fossile Energiegewinnung etwa müssen einfach gestrichen werden, das ist überhaupt keine Frage.
Gerade erst haben die Staatenlenker der G20 bei ihrem Treffen in Hamburg einen "Aktionsplan zu Klima und Energie für Wachstum" veröffentlicht.
Richtig. Wenn das nicht vielversprechend klingt!
Als die OECD im Mai eine Studie vorstellte, wonach Klimaschutz und Wachstum zusammengehen, bekam der Industrieländerclub von allen Staaten Applaus, weil der Bericht immerhin als Abkehr vom kompletten Ausbremsen des Klimaschutzes interpretiert wurde. Hat Postwachstum im aktuellen politischen Klima überhaupt eine Chance?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Wirtschaftswachstum aufhört. Für oder gegen Postwachstum wird man sich letztlich gar nicht entscheiden müssen. Schon jetzt fällt das Wachstum in den Industrieländern äußerst gering aus. Die Frage lautet eher: Werden Menschen, Unternehmen und Politik auf diese andere Welt vorbereitet sein?
Ich bin ja nicht dagegen, dass sich Staaten auf gemeinsame Ziele einigen und entsprechende Erklärungen abgeben wie nun die G20. Aber zu sagen, dass wir eine Klimakatastrophe abwenden und wirtschaftlich weiter so wachsen können, wie wir es kennen, ist ein Fehler. Es ist ein nachvollziehbarer Fehler, aber leider einer, der uns blendet und davon abhält, Lösungen für die Zukunft zu finden. Wir graben uns selbst ein großes Loch, in das wir extra tief fallen werden.
Was hat Sie bewogen, "Wohlstand ohne Wachstum" noch einmal zu überarbeiten?
Seit 2009 hat sich einiges verändert. Wir haben mittlerweile zum Beispiel ein viel besseres Verständnis der Weltwirtschaftskrise von 2007. Der Duktus im Politikbetrieb ist durchaus ein anderer geworden. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Noch Anfang 2007, als Gordon Brown (der spätere britische Labour-Premierminister, Anmerkung der Redaktion) Schatzkanzler war, habe ich mit Mitarbeitern des Finanzministeriums gesprochen. Die sagten mir, dass wir gerade die längste Konjunktur seit 200 Jahren erleben würden und dass man jetzt wüsste, wie das geht. Sie glaubten, sie hätten alles fest im Griff. Natürlich hatten sie nichts im Griff und fuhren das System mitten in die Krise.
Es wird immer deutlicher, dass die Weltwirtschaftskrise nicht nur durch finanzielle Verantwortungslosigkeit einzelner entstand, sondern dass sie Teil eines Trends war – dass es also eher unwahrscheinlich ist, dass die Weltwirtschaft unendlich weiter wachsen kann. Was mich auch angetrieben hat, war aber, dass es mittlerweile eine überwältigende Zahl von Menschen gibt, die das herrschende Wirtschaftsmodell infrage stellen.
Sie meinen die Degrowth-Bewegung?
Genau, die Stimme dieser Menschen ist lauter und deutlicher geworden, während sie vorher übertönt wurde. Und es geht ihnen nicht nur um eine Stimme, sondern auch um Aktion, um Wandel. Ich wurde von vielen Seiten regelrecht bombardiert mit der Bitte um ein neues Buch, denn viele sind auf der Suche nach einem konzeptionellen Rahmen für ihr gemeinnütziges Unternehmen, für ihre Bürgerenergiegenossenschaft, für ihr Repair-Café oder für ihre Leihplattform.
Es gibt eine Fülle an interessanten Initiativen, die die Postwachstumsidee in die Tat umsetzen wollen. Diese Projekte haben etliche Leute durch die schwierigen Jahre der Krise begleitet. Ich bin nicht naiv genug anzunehmen, dass Postwachstum damit ein Selbstläufer wird, aber die Vision wird dadurch anschaulicher und bedeutsamer.
Bekommen Sie auch mehr Zuspruch von Ihren akademischen Kollegen, den Wirtschaftswissenschaftlern?
Akademiker sind in der Regel nicht so wahnsinnig gut darin, sich gegenseitig zu loben. Es sind ja aber meine Kollegen, die meine Forschungsarbeiten und -anträge lesen und bewerten. Und ihre Integrität bei dieser Arbeit hat es mir erlaubt, beispielsweise mein Forschungszentrum für nachhaltigen Wohlstand zu finanzieren – im derzeitigen politischen Klima finde ich das bemerkenswert.
Aber hat sich auch der Diskurs gewandelt?
Ja, das glaube ich schon. Das liegt nicht nur an der eigentlichen Forschung, sondern auch an der aufstrebenden Degrowth-Bewegung oder an den wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen viele stehen. Es haben sich im vergangenen Jahrzehnt neue Räume entwickelt, die es möglich machen, die schwierigen Fragen zu stellen.