Der Intercity rollt am Bahnsteig in Norddeich Mole ein. Endstation. Über die steilen Treppchen des Zuges steigen Familien, Rentnergruppen und Wochenendausflügler aus, um mit ihren Rollkoffern eilig Richtung Fähre zu hasten.
Jährlich bringt das Fährschiff rund eine halbe Million Feriengäste nach Norderney. Die Kurhäuser, Pensionen und Restaurants liegen dicht gedrängt hinter einem Betondeich an der Westküste der Nordseeinsel. Auf dem Deich kann man spazieren gehen oder Fahrrad fahren, davor liegt ein traumhafter Sandstrand, schön wie aus dem Katalog.
Für den niedersächsischen Küstenschutz ist die Sicherheit der kleinen Touristenhochburg mittlerweile eine Herausforderung. Um die Insel vor steigendem Meeresspiegel, Sturmfluten und Erosion zu schützen, schütten die Behörden bereits seit Jahren Sand an die Strände: insgesamt bereits rund 250.000 Kubikmeter. Zusätzlich schützen Ufermauern und sogenannte Schutzdünen vor Überflutung. Sie sollen die Idylle erhalten.
"Ohne diese Maßnahmen wären diese Inselbereiche fortschreitender Erosion ausgesetzt und müssten letztlich aufgegeben werden", erklärt Achim Stolz von der niedersächsischen Küstenschutzbehörde. Er gibt sein Bestes, um die kleine Stadt Norderney zu schützen. Der Deich an der Westküste, heute sieben Meter hoch, müsse schon bald um sechzig Zentimeter erhöht werden.
Rückkehr zum natürlichen Hochwasserschutz
Der Klimawandel nagt an der 14 Kilometer langen und nur zwei Kilometer breiten Insel. Jedes Jahr steigt das Meer dort um rund zwei Millimeter, an einigen Stellen sind es sogar fast vier Millimeter. Laut Klimaforschung hat sich der Anstieg in den letzten Jahrzehnten beschleunigt. Im gesamten vergangenen Jahrhundert stieg das Meer an der Nordseeküste um durchschnittlich 20 bis 30 Zentimeter. Stürme wie der Orkan "Xaver" im Jahr 2013 könnten zudem mit fortschreitendem Klimawandel häufiger und intensiver werden.
Untergehen werde die Insel vielleicht nicht sofort, aber man könne die Deiche nicht unendlich aufstocken, warnt Gregor Scheiffarth von der Nationalparkverwaltung Wattenmeer. "Wenn innerhalb von 100 Jahren der Meeresspiegel um weitere anderthalb Meter steigt, haben wir irgendwann die Grenzen des Machbaren erreicht." Der letzte Weltklimabericht geht von rund einem Meter bis 2100 aus, neuere Studien beobachten weltweit einen immer schnelleren Anstieg.
Scheiffarth ist Meeresbiologe. Mit Fahrrad und Windjacke steht er auf einem Deich, etwas abseits des Touristenrummels, und erklärt das Dilemma des Küstenschutzes: "Die Sicherung der Küstenlinie führt zu verstärkter Erosion des davor liegenden Strandes." Baue man die Deiche höher und breiter, gebe es weniger Überschwemmungsland, auf dem die Wellen brechen können. Ein schleichender Prozess setze ein: Die Form der Sandbänke verändert sich, es gibt mehr Erosion, die Fluten werden heftiger und unberechenbarer.
Zwar fungieren vorgelagerte Salzwiesen meist noch als Schwamm und Wellenbrecher. Doch durch das Zubetonieren der Küste kann dieser Schutzraum sich nicht vergrößern und mit dem steigenden Meeresspiegel mitwachsen.
In den unbewohnten Gegenden von Norderney ist man mittlerweile zum natürlichen Hochwasserschutz zurückgekehrt und bewässert Salzwiesen wieder, die vorher trockengelegt worden waren, um sie als Weideland zu nutzen.
Städter spüren zum ersten Mal die Natur
Das Nationalparkhaus liegt gleich gegenüber dem Norderneyer Fährhafen. Leiterin Sonja Wolters versucht mit Ausstellungen und Wanderungen mehr aus der Insel zu machen als nur ein Urlaubsparadies. Je mehr die Menschen über die Verwundbarkeit der Natur wüssten, umso sorgfältiger gingen sie auch mit ihr um. "Viele Städter kommen hier das erste Mal richtig in Kontakt mit der Natur", erzählt Wolters. Hinter der Strand-und-Sonne-Idylle gebe es ein sensibles Ökosystem, das mittlerweile durch viele Einflüsse bedroht sei.
"Die Zeichen mehren sich, dass es in den nächsten hundert Jahren nie dagewesene Veränderungen geben wird", sagt Meeresbiologe Scheiffarth. Das liegt an den gestiegenen Temperaturen: Laut den Daten der Wetterwarte Norderney sind die Mitteltemperaturen der Luft in den Winter- und Frühjahrsmonaten sowie im Hochsommer seit 1960 um durchschnittlich ein Grad nach oben geklettert. Ähnlich sieht es bei den Wassertemperaturen aus.
In dem wärmeren Wasser tauchen plötzlich Quallenarten wie die Meerwalnuss auf, eine Rippenqualle, die es noch vor wenigen Jahren kaum in der Nordsee gab. Ob sich das auf die Fischpopulation auswirkt, die mit der Qualle um das Plankton konkurriert, sei noch nicht abzusehen, meint Scheiffarth. Derzeit würden jedes Jahr etwa zwei neue Arten ins Wattenmeer einwandern.
Einer der Gewinner des Klimawandels ist die Pazifische Auster – ebenfalls eine invasive Spezies. War das Wasser in der Nordsee für die Fortpflanzung dieser Muschelart früher viel zu kalt, kleben die Schalentiere mittlerweile in jedem Hafenbecken. Auf ihr siedeln andere eingewanderte Arten wie die Gespensterkrabbe und der Beerentang.
"Die Gefahr dabei ist, dass wir regionale Spezifika verlieren", warnt Scheiffarth. "Die Küsten könnten irgendwann sehr einheitlich aussehen, weil einige dominante Arten sich überall durchsetzen." Verlierer seien auch Vögel wie die Eiderente. Sie kommen an die Miesmuscheln, die nun zwischen den dicken Schalen der Austern wachsen, nicht mehr heran.
Zum Klimawandel kommen die Umweltgifte
Höhere Fluten durch den Meeresspiegelanstieg bedrohen laut Wattwächter Scheiffarth zudem brütende Vögel: Vermehrte Sommersturmfluten überschwemmen Nester, die nahe am Dünenrand liegen.
"Der Klimawandel ist da und agiert im Hintergrund, aber er ist nicht die Erklärung für alle Veränderungen", betont der Biologe. Spuren von Düngeresten von Äckern auf dem Festland und intensive Fischerei könnten zusammen mit den wärmeren Temperaturen zu einem gefährlichen Cocktail für das Watt werden.
Auch Nationalpark-Führerin Wolters ist pessimistisch: "Ich befürchte, dass die Folgen des Klimawandels und der Umweltgifte in Zukunft exponentiell zunehmen – was wir heute sehen, ist erst der Anfang." Und sie fügt hinzu: "Auch wenn wir die Veränderungen noch nicht spüren: Wenn alle Maschen im Netz unseres Ökosystems gezogen sind, dann spürt auch der Mensch auf Norderney die Folgen – dann wird es allerdings zu spät sein."