Tropfsteine sind Stein gewordene Zeit. Sie wachsen rund einen Zentimeter in hundert Jahren. Jedes Jahr lagert sich also eine 0,1 Millimeter dicke Kalkschicht an.
Die genaue Zusammensetzung dieser Schichten lässt Rückschlüsse auf das Wetter zur Zeit ihrer Entstehung zu. Letztlich ist ein Tropfstein also ein Archiv mit Jahrtausende alten Wetterdaten.
Doch diese für die Klimawissenschaften zu nutzen ist schwierig, weil es sich "um kurze Zeitreihen mit Unsicherheiten und Störungen handelt", sagt Nishant Malik von der US-Universität Rochester. Um dieses Problem zu lösen, benutzt er eine Kombination von drei mathematische Techniken, um die Daten zu glätten.
Diese Methode hat er dann auf Proben aus einer Tropfsteinhöhle in Nordindien angewandt und das Ergebnis in Chaos veröffentlicht, der "interdisziplinären Zeitschrift für nichtlineare Wissenschaft".
Malik ist es so gelungen, das Klima Nordindiens in den letzten 5.700 Jahren zu rekonstruieren. In diese Zeit fällt der Aufstieg und Niedergang der Indus-Kultur. Neben Mesopotamien und Ägypten ist dies die dritte Hochkultur der Bronzezeit.
Die Indus-Kultur entstand um das Jahr 3300 vor Christus und verschwand etwa 2.000 Jahre später wieder. In dieser Zeit erstreckte sie sich über fast die ganze Fläche des heutigen Pakistan sowie über Teile Nordindiens und Afghanistans – knapp die vierfache Fläche Deutschlands.
In diesem Gebiet wurden mittlerweile über 140 Städte und Siedlungen gefunden. Die beiden größten, Harappa und Mohenjo-Daro, liegen am Indus, Pakistans wichtigstem Fluss.
Die Indus-Kultur zeichnet sich durch ihre hoch entwickelte Stadtplanung aus. Die Straßen folgten einem Gittermuster und waren asphaltiert. Die Häuser hatten Toiletten, die an ein Kanalisationssystem angeschlossen waren. Im Gegensatz zu Mesopotamien und Ägypten gab es keine Monumentalbauten.
Warum die Indus-Kultur verschwand, war bislang umstritten. Es gab drei Theorien: eine Invasion von "Indo-Ariern", Erdbeben und klimatische Veränderungen.
Landwirtschaftliche Produktivität nahm wieder ab
Malik konnte nun zeigen, dass das Schicksal der Indus-Kultur zeitlich mit Veränderungen des Monsuns in Nordindien zusammenfällt. Um 3300 vor Christus nahm die Menge an Niederschlägen deutlich zu, als die Indus-Kultur entstand. Und um 1500 vor Christus wurde der Monsun dann wieder deutlich schwächer, also zur Zeit, als "die meisten Städte der Indus-Kultur aufgegeben wurden".
Der Grund für den Niedergang dürfte ein Rückgang der Produktivität in der Landwirtschaft gewesen sein. Eine Gesellschaft muss sich Stadtbewohner leisten können. Harappa und Mohenjo-Daro hatten jeweils 30.000 bis 40.000 Einwohner.
Um diese zu ernähren, müssen die Bauern im Umland hochproduktiv sein. Sind sie es nicht, bleibt den Städtern nichts anderes übrig, als ebenfalls aufs Land zu ziehen und dort ihre eigenen Lebensmittel anzubauen. Die arbeitsteilige Hochkultur verschwindet.
Hinzu kommt, dass das wichtigste Exportprodukt der Indus-Kultur wohl Textilien aus Baumwolle waren. Diese wurden bunt gefärbt und erfreuten sich unter bronzezeitlichen Modefans großer Beliebtheit.
Insbesondere mit den Sumerern im südlichen Mesopotamien, im heutigen Irak, wurde reger Handel getrieben. Sumerische Quellen enthalten auch den einzigen Hinweis darauf, wie die Indus-Kultur zu ihrer Zeit geheißen haben könnte: Meluha.
Für den Fernhandel unterhielt die Indus-Kultur ein weitläufiges Netz von Handelsniederlassungen von Shortugai im Norden Afghanistans bis Ras al-Dschinz im heutigen Oman. Waren wurden sowohl über Land als auch über das Meer transportiert.
Bei Lothal im indischen Bundesstaat Gujarat wurde sogar ein künstliches Hafenbecken entdeckt, das wohl älteste der Welt. Mit dem schwächeren Monsun musste aber der personal- und bewässerungsintensive Baumwollanbau aufgegeben werden, was zum Niedergang beitrug.
Trotz aller Errungenschaften hatte die Indus-Kultur möglicherweise keine Schrift, und wenn doch, dann kann man diese nicht entziffern. Daher sind Aufstieg und Untergang von "Meluha" bislang nur in Tropfsteinen dokumentiert.